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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers
Autoren: Alice Miller
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tagelanges Schweigen war eine ständig drohende Gefahr. Da sie meine wahre Existenz nie wollte, mußte ich meine authentischen Gefühle regelrecht vor ihr verstecken.Meine Mutter war zu gewaltsamen Ausbrüchen fähig, aber es fehlte ihr vollkommen die Fähigkeit, zu reflektieren und ihre Emotionen zu hinterfragen. Da sie seit ihrer Kindheit frustriert und unzufrieden lebte, hat sie mich ständig wegen irgend etwas beschuldigt. Wenn ich mich gegen diese Ungerechtigkeit wehrte und in extremen Fällen versuchte, ihr meine Unschuld nachzuweisen, verstand sie das als Angriffe gegen sie, die sie oft drakonisch bestrafte. Sie verwechselte Emotionen mit Fakten. Wenn sie sich durch meine Erklärungen angegriffen fühlte , dann war es für sie abgemachte Sache, daß ich sie angegriffen hatte. Um zu sehen, daß ihre Gefühle andere Ursachen hatten als mein Verhalten, hätte sie die Fähigkeit zur Reflexion gebraucht. Doch nie habe ich erlebt, daß sie etwas bedauerte, sie fühlte sich immer »im Recht«. Das machte aus meiner Kindheit ein totalitäres Regime.
     
    Meine These über die destruktive Macht des Vierten Gebotes versuche ich in diesem Buch in drei unterschiedlichen Teilen zu erläutern: Im ersten Teil bringe ich Vignetten aus dem Leben verschiedener Schriftsteller, die in ihren Werken unbewußt die Wahrheit ihrer Kindheit dargestellt haben. Sie durften diese nicht in ihrem Bewußtsein zulassen, aus der Angst des kleinen Kindes heraus, das in ihnen im abgespaltenen Zustand überdauerte und das auch im Erwachsenen nicht glauben konnte, daß es für die Wahrheit nicht umgebracht wird. Da diese Angst nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern weltweit vom Gebot unterstützt wird, die Eltern schonen zu müssen, blieb sie abgespalten und einer Verarbeitung unzugänglich. Der Preis dieser vermeintlichen Lösung, der Preis für das Ausweichen in die Idealisierung von Vater und Mutter, für die Verleugnung der realen Gefahr in der frühen Kindheit,die im Körper begreifliche Ängste hinterließ, war sehr hoch, wie wir an den angeführten Beispielen sehen werden. Leider könnte man ihnen unzählige hinzufügen. Hier zeigt sich eindeutig, daß diese Menschen die Bindung an ihre Eltern mit schweren Erkrankungen bzw. frühem Tod oder Suizid bezahlt haben. Die Verbrämung der Wahrheit über die Leiden ihrer Kindheit stand in krassem Gegensatz zum Wissen ihres Körpers, das zwar im Schreiben ausgedrückt wurde, aber unbewußt blieb. Daher fühlte sich der Körper, das einst verachtete Kind, immer noch nicht verstanden und nicht respektiert. Denn man kann ihm mit den Geboten der Ethik nicht beikommen. Seine Funktionen, wie das Atmen, der Kreislauf, die Verdauung, reagieren nur auf gelebte Emotionen, nicht auf moralische Vorschriften. Der Körper hält sich an die Fakten. Seitdem ich mich mit dem Einfluß der Kindheit auf das spätere Leben befasse, lese ich viel in Tagebüchern und Briefen der Schriftsteller, die mich besonders interessieren. Jedesmal fand ich in ihren Äußerungen Schlüssel zum Verständnis ihrer Werke, ihres Suchens und ihres Leidens, das in der Kindheit begann, doch deren Tragik ihrem Bewußtsein und ihrem Gefühlsleben unzugänglich war. Hingegen konnte ich diese Tragik in ihren Werken spüren, wie zum Beispiel bei Dostojewski, Nietzsche, Rimbaud, und dachte, so würde es auch anderen Lesern ergehen. Ich wandte mich den Biographien zu und stellte fest, daß hier von sehr vielen Einzelheiten über das Leben der betreffenden Schriftsteller, über äußere Fakten, berichtet wurde, aber kaum ein Wort zu finden war über die Art, wie der einzelne die Traumen seiner Kindheit bewältigte, was sie ihm ausgemacht und wie sie ihn geprägt hatten. Auch in Gesprächen mit Literaturwissenschaftlern stieß ich auf wenig oder gar kein Interesse an diesem Thema.Die meisten reagierten auf meine Frage geradezu verunsichert, als ob ich sie mit etwas Unanständigem, beinahe Obszönem hätte konfrontieren wollen, und wichen mir aus.
    Doch nicht alle. Manche zeigten Interesse an der von mir vorgeschlagenen Sicht und lieferten mir plötzlich kostbares biographisches Material, das ihnen zwar seit langem bekannt war, aber bislang bedeutungslos erschien. Gerade diese Zusammenhänge, die von den meisten Biographen übersehen oder gar ignoriert wurden, habe ich im ersten Teil dieses Buches in den Vordergrund gestellt. Das führte notgedrungen zu einer Beschränkung auf nur einen Gesichtspunkt und zum Verzicht auf die Darstellung anderer,
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