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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers
Autoren: Alice Miller
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nicht nur für das Leben von Magersüchtigen so bezeichnendeQuelle der Hoffnungslosigkeit deutlich benannt: Es ist das Scheitern der echten Kommunikation mit den frühen Eltern, die immer wieder in der Kindheit vergeblich gesucht wurde. Vom Erwachsenen aber kann diese Suche nach und nach überwunden werden, sobald in der Gegenwart authentische Gespräche mit anderen Menschen möglich werden.
     
    Die Tradition der Kindesopferung ist tief in den meisten Kulturen und Religionen verankert und wird deswegen auch in unserer abendländischen Kultur mit großer Selbstverständlichkeit bejaht und toleriert. Wir opfern zwar unsere Söhne und Töchter nicht mehr wie Abraham Isaak auf dem Altar Gottes, aber wir geben ihnen schon bei der Geburt und später in der ganzen Erziehung den Auftrag, uns zu lieben, zu ehren, zu achten, für uns Leistungen zu vollbringen, unseren Ehrgeiz zu befriedigen, kurzum, uns all das zu geben, was uns unsere Eltern verweigert haben. Wir nennen das Anstand und Moral. Das Kind hat selten eine Wahl. Es wird sich unter Umständen sein Leben lang zwingen, den Eltern etwas anzubieten, über das es nicht verfügt und das es nicht kennt, weil es dies nie bei ihnen erlebt hat: echte, bedingungslose Liebe, die nicht nur Bedürftigkeit zudeckt. Trotzdem wird es sich darum bemühen, weil es auch noch als Erwachsener seine Eltern zu brauchen meint und immer wieder, trotz aller Enttäuschungen, auf etwas Gutes von ihnen hofft. Diese Bemühung kann dem Erwachsenen zum Verhängnis werden, wenn er sich nicht von ihr befreit. Sie hinterläßt den Schein, den Zwang, die Fassade und den Selbstbetrug.
    Der starke Wunsch vieler Eltern, von ihren Kindern geliebt und geehrt zu werden, findet seine angebliche Legitimation im Vierten Gebot. In einer Fernsehsendung zu diesem Thema, die ich zufällig sah, sagten alle geladenen Geistlichen unterschiedlicher Religionen, man müsse seine Eltern ehren, ganz unabhängig davon, was sie getan haben. So wird die Position des abhängigen Kindes kultiviert, und die Gläubigen wissen nicht, daß sie diese Position als Erwachsene sehr wohl verlassen können. Im Lichte des heutigen Wissens enthält nämlich das Vierte Gebot einen Widerspruch in sich. Die Moral kann uns zwar vorschreiben, was wir tun sollten und was wir nicht tun dürfen, aber doch nicht, was wir fühlen müßten. Denn wir können echte Gefühle nicht erzeugen, sie auch nicht töten, wir können sie nur abspalten, uns belügen und unseren Körper täuschen. Doch wie gesagt, hat unser Gehirn unsere Emotionen gespeichert, sie sind abrufbar, erlebbar und lassen sich glücklicherweise gefahrlos zu bewußten Gefühlen verwandeln, deren Sinn und Ursachen wir erkennen können, wenn wir einen Wissenden Zeugen finden.
    Die seltsame Idee, Gott lieben zu müssen, damit er mich nicht für meine Auflehnung und Enttäuschung bestraft und mich mit seiner alles vergebenden Liebe belohnt, ist ebenfalls Ausdruck unserer kindlichen Abhängigkeit und Bedürftigkeit sowie der Annahme, Gott sei wie unsere Eltern ausgehungert nach unserer Liebe. Aber ist das nicht im Grunde eine ganz und gar groteske Vorstellung? Ein höheres Wesen, das auf künstliche, weil durch die Moral diktierte Gefühle angewiesen ist, erinnert ja stark an die Bedürftigkeit unserer einst frustrierten und nicht autonomen Eltern. Dieses Wesen als Gott zu bezeichnen können nur Menschen, die ihre eigenen Eltern und ihre eigene Abhängigkeit noch nie in Frage gestellt haben.
     

I. Sagen und Verhüllen
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    »Denn lieber will ich Anfälle
haben und Dir gefallen,
als Dir mißfallen und keine haben.«
     
    Marcel Proust, Brief an die Mutter

I.1  Die Ehr- Furcht vor den Eltern und
ihre tragischen Folgen
– Dostojewski, Tschechow, Kafka,
Nietzsche
     
    Anhand meiner Studien über zwei russische Schriftsteller, deren Werke mir in meiner Jugend sehr viel bedeuteten, Tschechow und Dostojewski, wurde mir klar, wie lückenlos der Mechanismus der Abspaltung noch vor einem Jahrhundert funktionierte. Als es mir endlich gelang, die Illusionen über meine Eltern aufzugeben und die Folgen ihrer Mißhandlungen in meinem Leben deutlich zu sehen, öffneten sich meine Augen für Fakten, denen ich früher keine Bedeutung beimaß. Ich las zum Beispiel in einer Biographie über Dostojewski, daß sein Vater, der zunächst Arzt war, in seinen späteren Jahren ein Gut mit hundert Leibeigenen erbte. Er ging allerdings so brutal mit diesen
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