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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers
Autoren: Alice Miller
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inzestuöse Ausbeutung durch den Vater hätte in ihr Schuldgefühle hinterlassen, die sie ihr ganzes Leben bei der Mutter abzuzahlen versuche.
    Anita konnte mit diesen Deutungen nichts anfangen, sie konnte nichts dabei fühlen, außer den Ärger, manipuliert worden zu sein. Sie erlebte jetzt Susan wie eine Gefangene der psychoanalytischen Schule, die, trotz mehrfacher Versicherungen, deren Dogmen offenbar noch nicht genug in Frage gestellt hatte. Sie hatte ihr so gut helfen können, die Muster der Schwarzen Pädagogik abzuschütteln, aber nun offenbarte sie ihr eine Abhängigkeit von den Ansichten ihrer Ausbildung, die in Anitas Ohren vollkommen falsch klangen. Sie war fast dreißig Jahre jünger als Susan und brauchte sich nicht Dogmen zu unterwerfen, die eine Generation früher als selbstverständlich galten.
    So verabschiedete sich Anita von Susan und fand eine Gruppe von Gleichaltrigen, die bereits ähnliche Erfahrungen in den Therapien gemacht hatten und nach erziehungsfreien Formen der Kommunikation suchten. Da erhielt sie die Bestätigung, die sie brauchte, um sich dem Sog ihrer Familie zu entziehen und sich nicht Theorien einreden zu lassen, die ihr nicht im geringsten einleuchteten. Die Depression verschwand, und auch die Magersucht kehrte nicht wieder zurück.
    Magersucht gilt als eine sehr komplexe Erkrankung mit manchmal tödlichem Ausgang. Der Mensch quält sich zu Tode. Doch um diese Krankheit zu verstehen, müssen wir uns darüber klarwerden, worunter dieser Mensch als Kind gelitten hat und wie er von seinen Eltern seelisch gequält wurde, als sie ihm die wichtige emotionale Nahrung verweigerten. Diese Aussage scheint so viel Unbehagen bei den Ärzten zu wecken, daß sie lieber an der Idee festhalten, die Anorexie sei unverständlich und könne zwar mit Medikamenten begleitet, aber nicht wirklich ausgeheilt werden. Ähnliche Mißverständnisse entstehen da, wo die vom Körper erzählte Geschichte ignoriert und im Namen des Vierten Gebotes auf dem Altar der Moral geopfert wird.
    Anita lernte zuerst bei Nina, dann bei Susan und schließlich in der Gruppe, daß sie das Recht hatte, auf ihrem Bedürfnis nach einer nährenden Kommunikation zu bestehen, daß sie auf diese Nahrung nie mehr verzichten müsse und daß sie nicht in der Nähe ihrer Mutter leben könne, ohne dies mit der Depression zu bezahlen. Das genügte ihrem Körper, der sie von nun an nicht mehr zu mahnen brauchte, weil sie seine Bedürfnisse respektierte und sich ihretwegen von niemandem mehr beschuldigen ließ, solange sie ihren Gefühlen treu blieb.
    Anita erfuhr dank Nina zum ersten Mal in der Klinik, daß es so etwas wie menschliche Wärme und Anteilnahme ohne Forderungen und Schuldzuweisungen geben kann. Dann hatte sie das Glück, in Susan eine Therapeutin zufinden, die zuhören und fühlen konnte, bei der sie ihre eigenen Emotionen fand und sie zu erleben und auszudrücken wagte. Sie wußte von nun an, welche Nahrung sie suchte und brauchte, sie konnte neue Beziehungen anknüpfen und die alten auflösen, in denen sie auf etwas wartete, das sie nicht kannte. Jetzt kannte sie es, bei Susan hat sie es bekommen und konnte später dank dieser Erfahrung auch die Grenzen der Therapeutin erkennen. Und nie wieder wird sie sich in ein Loch verkriechen müssen, um vor den ihr angebotenen Lügen zu fliehen. Sie wird ihnen jedesmal ihre Wahrheit entgegensetzen und nie mehr hungern müssen, weil sich jetzt das Leben für sie lohnt.
    Anitas Erzählung braucht eigentlich keine Kommentare, die Fakten, die sie beschreibt, weisen auf die Gesetzmäßigkeit hin, die diese Geschichte spiegelt. Am Ursprung der Erkrankung stand Anitas Verhungern beim Mangel an echtem affektiven Kontakt mit den Eltern und den Partnern. Und die Genesung wird schließlich möglich, sobald die Erfahrung gemacht werden kann, daß es für Anita heute Menschen gibt, die verstehen wollen und können.
     
    Zu den in unserer Kindheit unterdrückten (bzw. verdrängten oder abgespaltenen) Emotionen, die in unseren Körperzellen gespeichert sind, gehört vor allem die Angst. Ein geschlagenes Kind müßte ja ständig Angst vor neuen Schlägen haben, aber es kann nicht mit dem Wissen leben, daß es grausam behandelt wird. Es muß dieses Wissen verdrängen. Ähnlich kann ein vernachlässigtes Kind seinen Schmerz nicht bewußt erleben, geschweige denn ihn ausdrücken, aus Furcht, völlig verlassen zu werden. Also verharrt es in einer irrealen, geschönten, illusionären Welt. Das hilft ihm
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