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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301
Autoren: Wilfried Eggers
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Surnâme
    Der Regierungsgesandte für die Hinrichtung der Festgenommenen, ein Mann mit Namen Ihsan Sabri Çaglayangil, der spätere Außenminister der Türkei, traf am Samstag, den 6. November 1937 früh um neun mit dem Nachtzug von Ankara aus in Xarpêt ein, oder besser – in Elazıg , wie die Großstadt im Osten Anatoliens jetzt hieß. Sechs Männer begleiteten ihn.

    Seine Exzellenz, der Erste Staatspräsident Atatürk, hatte Çaglayangil mit weitreichenden Kompetenzen aus gestattet, damit er die rechtzeitige Hinrichtung der Festgenommenen veranlassen konnte. Diese sollten, natürlich unter strengster Beachtung aller Vorschriften des Rechtsstaates, durchgeführt werden, noch bevor Atatürk am kommenden Montag anreisen würde. Der Staatspräsident war auf dem Weg nach Diyarbakır, wo er die Brücke über den Fluss Murat einweihen wollte, einem Symbol der staatlichen Macht im Osten des Landes. In Elazıg lungerten sechstausend Weißhosen, wie man die Leute aus der Provinz Dersim, die nun den Namen Tunceli trug, nannte. Sie sollten keine Gelegenheit mehr bekommen, Sein e Exzellenz um Gnade anzubetteln für ihren Anführer, der sie ins Elend geführt und um ihre Heimat gebracht hatte.
    Im letzten Jahr hatte Seine Exzellenz Atatürk in seiner Rede zur Eröffnung des Parlaments die Zustände in der Provinz Tunceli als Narbe im Fleisch der Türkei, als furchtbaren Eiter im Innersten des Landes erkannt und gefordert, die Aufständischen endlich niederzuwerfen und das Übel samt seiner Wurzel anzupacken und zu säubern, koste es, was es wolle. Wenig später, am 4. Mai 1937 fasste der Ministerrat den geheimen Beschluss, sämtliche Dörfer der Provinz zu vernichten und ihre Einwohner zu deportieren und alle, die eine Waffe benutzt hatten, unschädlich zu machen. Jetzt, nach exakt achtzehn Monaten, war der Aufstand beendet; er hatte viele Menschen das Leben gekostet, aber dafür war das Dersimtum endgültig vernichtet und man konnte nun das Gebiet schrittweise dem türkischen Rechtswesen unterwerfen. Der greise Anführer der Aufständischen, Seyit Rıza, und sechsundzwanzig seiner Gefährten waren schon vor Monaten verhaftet worden, als sie nach Erzurum gekommen waren, um der Regierung einen Friedensvorschlag zu machen. Aber es ging nicht um Frieden, sondern um Vernichtung und Unterwerfung.
    Die Gerichtsverhandlung gegen die Gefangenen war kurz und fast abgeschlossen. Das Gesetz über die Verwaltung der Provinz Tunceli Nr. 3195 vom 2. Januar 1936 gebot, innerhalb von zwei Tagen nach Abschluss der Vorermittlungen Anklage zu erheben, und es verbot, die Anklage den Angeklagten zur Kenntnis zu geben. Das war auch nicht nötig, denn diese verstanden kein Türkisch. Außerdem war gemäß Paragraf 29 des Gesetzes die Berufung ausgeschlossen.
    Der Regierungsgesandte deponierte sein Gepäck im Hotel und eilte zur Wohnung des Richters, den er mit dem Diktat der Urteile beschäftigt vorfand.
    Übermorgen, am kommenden Montag, treffe Seine Exzellenz in der Stadt ein, erklärte der Gesandte und verlangte, dass die notwendigen Todesurteile bis dahin vollstreckt zu sein hätten.
    Am Samstag könne das Gericht nicht tagen, lehnte der Richter ab, nachdem er die Sekretärin fortgeschickt und ihr Tee zu bereiten befohlen hatte. Und ebenso wenig am Sonntag. Das Gericht trete vorschriftsgemäß nur an Werktagen zusammen, die Urteile könnten deshalb erst am Montag verkündet und vor Dienstag nicht vollstreckt werden.
    Der nimmt es wohl sehr genau, wie es sich gehört für einen ordentlichen Richter einer Republik, dachte der Regierungsgesandte. Ob es auch vorkomme, fragte er listig, dass das Gericht nach 17 Uhr tage, in den Abend hinein?
    Der Richter rieb seine klammen Hände über dem Kohlebecken, das neben seinem Schreibtisch stand. O doch, gab er widerstrebend zu, das komme vor, man verhandele mitunter bis abends um 22 Uhr oder noch länger. Wenn es nötig sei.
    Wenn man Gerichtsverhandlungen später enden lassen könne, schlug der Gesandte vor, könne man sie doch auch früher beginnen lassen? Nämlich Sonntagabend um Mitternacht; beginne nicht der Montag um 24 Uhr? Wo sei da ein Unterschied zu machen? Wie solle er, der Gesandte, Seiner Exzellenz erklären, dass der Richter zwar bereit sei, eine Verhandlung um fünf Stunden zu verlängern, jedoch nicht, sie um kaum längere Zeit früher zu beginnen?
    Die Sekretärin brachte den Tee, ließ das Henkeltablett auf dem Schreibtisch stehen. Der Richter rührte schweigend in seinem Glas, mit einem
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