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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers
Autoren: Alice Miller
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Realität zu fliehen, was logischerweise kaum Veränderungen bewirken kann.
    Sigmund Freud unterwarf sich vor mehr als 100 Jahren uneingeschränkt der herrschenden Moral, indem er eindeutig das Kind beschuldigte und die Eltern schonte. So verfuhren auch seine Nachfolger. In meinen letzten drei Büchern habe ich darauf hingewiesen, daß sich die Psychoanalyse zwar mittlerweile den Fakten über Kindesmißhandlung und sexuellen Mißbrauch von Kindern mehr geöffnet hat und diese Fakten in ihre theoretischen Überlegungen zu integrieren versucht, daß aber leider diese Versuche häufig am Vierten Gebot scheitern. Die Rolle der Eltern beim Entstehen der Symptomatik des Kindes wird weiterhin verbrämt und verschleiert. Ob die angebliche Erweiterung des Horizontes die innere Haltung der Mehrheit der Therapeuten wirklich verändert hat, kann ich nicht beurteilen, doch aus den Publikationen habe ich den Eindruck, daß die Reflexion über die traditionelle Moral immer noch aussteht. Das Verhalten der Eltern wird weiterhin verteidigt, in der Praxis, aber auch in den Theorien. Das bestätigte mir das Buch von Eli Zaretsky, Secrets of the Soul, mit seiner ausführlichen Geschichte der Psychoanalyse bis heute (ohne das Problem des Vierten Gebotes überhaupt zu thematisieren). Daher beschäftige ich mich in der Revolte des Körpers eher am Rande mit der Psychoanalyse.
    Leser, die meine anderen Bücher nicht kennen, haben vielleicht Mühe zu realisieren, worin der große Unterschied zwischen dem, was ich schreibe, und den Theorien der Psychoanalyse liegt. Denn auch Analytiker befassen sich ja bekanntlich mit der Kindheit und lassen heute zunehmend den Gedanken zu, daß die frühen Traumen das spätere Leben beeinflussen. Doch die von den Eltern zugefügten Verletzungen werden häufig umgangen. Zu den meisten Traumen gehören Todesfälle der Eltern, schwere Erkrankungen, Scheidungen, Naturkatastrophen, Kriege usw. Mit ihnen fühlt sich der Patient nicht allein gelassen, der Analytiker kann sich in seine Situation als Kind mühelos einfühlen und ihm als Wissender Zeuge helfen, seine Kindheitsleiden zu bewältigen, zumindest solche, die ihn nicht an seine eigenen erinnern. Anders ist es da, wo es um Verletzungen geht, die die meisten Menschen erfahren mußten, wenn es nämlich darum geht, den Haß der eigenen Eltern, aber auch später die Feindseligkeit der Erwachsenen gegenüber den Kindern wahrzunehmen.
    Das verdienstvolle Buch von Martin Dornes, Der kompetente Säugling, zeigt m. E. sehr deutlich, wie schwer sich die bisherigen Vorstellungen der Analytiker mit den neuesten Forschungen über den Säugling vereinbaren lassen, obwohl sich der Autor sehr darum bemüht, den Leser vom Gegenteil zu überzeugen. Es gibt dafür viele Ursachen, auf die ich in meinen Büchern hinweise, doch ich meine, daß die Hauptursachen in der Wirkung der Denkblockaden liegen (vgl. AM 2001, S. 109-133), die, zusammen mit dem Vierten Gebot, von der Realität der Kindheit wegführen. Schon Sigmund Freud, aber vor allem Melanie Klein, Otto Kernberg, deren Nachfolgerschaft sowie die Ich-Psychologie Heinz Hartmanns haben dem Säugling all das zugeschrieben, was ihnen die einst von ihnen selbst erfahrene Erziehung im Geiste der Schwarzen Pädagogik diktiert hatte, nämlich daß Kinder von Natur aus böse oder »polymorph pervers« seien. (Im Verbannten Wissen habe ich eine ausführliche Passage des bis heute sehr angesehenen Analytikers Glover zitiert, dieseine Sicht auf das Kind beschreibt.) Mit der Realität eines lebenden Kindes hatte das wenig zu tun, schon gar nicht mit der eines verletzten und leidenden Kindes, zu denen ja unbestreitbar die Mehrheit gehört, solange körperliche Strafen und andere seelische Verletzungen fast allgemein als legitimer Teil einer richtigen Erziehung gelten.
    Analytiker, wie etwa Sandor Ferenczi, John Bowlby, Heinz Kohut und andere, die sich dieser Realität zuwandten, blieben am Rande der Psychoanalyse, weil ihre Forschungen der Triebtheorie kraß widersprachen. Trotzdem ist meines Wissens keiner von ihnen aus der IPA (International Psychoanalytical Association) ausgetreten. Warum? Weil sie alle, wie viele auch noch heute, vermutlich hofften, die Psychoanalyse sei kein dogmatisches, sondern ein offenes System und könne Ergebnisse der neuesten Forschungen integrieren. Ich will das für die Zukunft nicht ausschließen, doch ich meine, daß eine unabdingbare Voraussetzung für diese Öffnung die Freiheit wäre, die realen
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