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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie
Autoren: dtv
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Präsident Franklin Roosevelt, dass ich nicht lache!«
    Claires Vater wandte sich mir zu. Er machte ein bekümmertes Gesicht. »Ich glaube, darin irrst du dich, mein Junge«, sagte er. »Es ist ganz und gar unmöglich, dass Frank Roosevelt jemals Präsident wird. Nicht mit Kinderlähmung. Ich glaube auch nicht, dass du ihn auf dem Umschlag von Life auf einem Flugzeugträger hast stehen sehen.«
    Ein Raunen und Murmeln ging durch den Raum.
    »Und ich bin mir auch nicht so verdammt sicher, dass du elf Jahre alt bist.«
    Bei seinem Ton wurde mir flau im Magen.
    »Oscar!«, schaltete sich Claire ein. »Trage ihnen ›Wenn‹ vor. Kein Sechsjähriger könnte das Gedicht auswendig aufsagen. Tu’s einfach!«
    Das Urteil der Männer im Raum verharrte noch in der Schwebe. Zigarren und Zigaretten wurden angezündet.
    »Los!«, sagte Claires Vater. »Überzeuge uns, Oscar.«
    Ich stand in der Mitte des Kaminvorlegers und begann. »Wenn du … wenn du deine Schulden – nein, warten Sie … warten Sie. Wenn du kühlen Kopf bewahrst, wenn … wenn alle andern dir die Schuld geben – nein, warten Sie …« Ich spürte, wie mein Puls raste, als Kiplings Gedicht, das ich gekannt hatte wie meine Westentasche, in meinem Kopf zerbröselte. Claire blickte besorgt drein. Ich war dabei zu vergessen. Die Zukunft entschwand meinem Gedächtnis, war vielleicht für immer verloren.
    »Komm schon, Oscar!«, sagte Claire. »Du kannst es im Schlaf!« Claire begann die Worte mit den Lippen zu formen, wie ich es einst für Cyril getan hatte. Aber es half nichts. Das Gedicht war aus meinem Kopf verschwunden wie ein Stern am Morgenhimmel.
    »Ein ganz durchtriebener Schlingel! Durch und durch verlogen!«, bemerkte Mr Kennedy. »Präsident Frank Roosevelt! Haha! Glücksspieler, was sagt man dazu!«
    Claire konterte: »Oscar ist ein durch und durch amerikanischer Junge, der jeden Sonntag zur Kirche geht. Er hat Ihnen die Wahrheit gesagt, Mr Kennedy,aber ich glaube nicht, dass irgendjemand in diesem Raum die Wahrheit hören will! Jeder hier will nur mehr und noch mehr Geld machen!«
    »Du tischst uns Märchen auf, Oscar, falls das überhaupt dein richtiger Name ist«, sagte Mr Bister ruhig zu mir. »Und du lügst. Ich kann’s in deinen Augen lesen.« Er wandte sich an Claire. »Der Handel ist geplatzt, mein Fräulein!«, sagte er und warf mir die Zehncentmünze vor die Füße. »Wahrscheinlich hast du die von irgendeinem fragwürdigen Zauberkünstler bekommen!«, schnaubte er.
    Claire erwiderte nichts. Sie nahm meine Hand und durchbohrte Mr Kennedy, dessen Sohn und die beiden Herren Merrill und Lynch mit ihrem Blick. »Komm, Oscar, wir gehen nach oben.«
    Mr Bister würde mir keinen müden Cent geben. Das war mir klar. Claire und ich stapften schweigend die Treppe hinauf.
    Wir hörten jemanden sagen: »Was werden Sie mit diesem verwahrlosten kleinen Balg machen?«
    »Ich werde meinen Anwalt anrufen müssen«, sagte Claires Vater.
    »Verdammt, Bistah! Sie sind selbst Anwalt!«, warf Mr Kennedy in seinem breiten Tonfall ein.
    Claire sagte nicht viel, aber ihre Augen sprachen Bände und ich wusste, was sie dachte. Ich hatte ihren Vater vor seinen Freunden blamiert und die ganze Sache vermasselt. Wir saßen auf ihrer Fensterbank und schauten wortlos auf den Verkehr hinunter. Das Abendessen stand auf einem Silbertablett auf ihrem Tisch, aber keiner von uns hatte Appetit darauf. Plötzlich berührte Claire meinen Arm und sagte: »Komm, lass uns horchen!«
    Wir schlichen über den Flur zum Wäscheschacht. Claire zog den Eisengriff der Klappe und steckte ihren Kopf in die Öffnung. Ein kalter Luftzug wehte herauf und mit ihm die Stimmen. Wir hörten Claires Eltern beim Abendessen.
    Wir hörten das Klirren der Messer und Gabeln auf ihren Tellern. Wir hörten das Knarren der Stühle. Sie redeten über die Partys, die sie besuchen würden, und jene, die ihnen gestohlen bleiben konnten, und über die Freunde, die an diesen Partys teilnehmen würden oder nicht. Schließlich bekam Mrs Bister einen Schluckauf. Dann sagte sie: »Robert, was sollen wir mit dem kleinen Ausreißer da oben machen?«
    »Ich wollte ihn mit einem Zug dorthin zurückschicken, von wo er gekommen ist«, sagte ClairesVater mit vollem Mund. »Aber womöglich kommt er zurück.«
    »Du kannst ihn nicht allein mit einem Zug fortschicken wie ein Paket«, gab Mrs Bister zu bedenken. »Die Eisenbahn verlangt die Begleitung eines Erwachsenen, aber wir werden nicht die ganze Strecke nach Chicago mit
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