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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie
Autoren: dtv
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Wir wohnten am Ende der Lucifer Street, der Mississippi-Uferstraße in Cairo, Illinois. Schwarzfichten säumten unsere Schotterstraße. Mein Herz schlug höher, als ich meinen Dad mit beschwingten Schritten über die abgefallenen Fichtennadeln nach Hause kommen sah. Ein roter Karton mit der Aufschrift Lionel Company, Rochester, New York , den er auf seiner Schulter balancierte, hüpfte bei jedem Schritt auf und ab. In diesem Karton war mein Geburtstagsgeschenk, der Blaue Komet. Der Blaue Komet war der König aller Modelleisenbahnen.
    Ich erwartete ihn unter dem Deckenlicht der Veranda. Die gelbe 40 -Watt-Glühbirne über meinem Kopf zog flatternde Nachtfalter und schwirrende Junikäfer an. Es herrschte ein Betrieb wie auf derGrand Central Station, dem Hauptbahnhof von New York City. In der Küche stand unser Abendessen warm und duftend auf dem Herd.
    Das Haus am Ende der Lucifer Street war Mums ganzer Stolz gewesen. Sie hatte es so hübsch hergerichtet, als ich noch ein Baby war, überall gelbe Vorhänge und strahlend weiße Wände. Wir haben ein einziges Foto, mit eingerollten Ecken, von mir, Dad und Mum. Auf dem Schnappschuss war ich ein magerer, sommersprossiger Dreijähriger mit einem steilen Haarschopf hoch oben auf meinem Kopf.
    Mum war die Buchhalterin in der Lucifer-Feuerwerkskörperfabrik, bis eines Tages ein verirrter Blitz wie ein Pfeil durchs Fenster des Versandraums hereinschoss, die Uhr zum Stehen brachte und in einen Karton mit Leuchtkugeln in der Nähe ihres Stuhls fuhr. Hinterher sagten alle, in der halben Sekunde dieser Explosion hätte sie weder etwas mitbekommen noch gespürt. Alles, woran ich mich erinnere, war ein Feuerwehrwagen, den ich durchs Küchenfenster sah, und meine Tante Carmen, die aus dem Nichts aufgetaucht war und ihre Augen mit den Händen bedeckte.
    Das, was von der Lucifer-Fabrik übrig war, wurdefür baufällig erklärt und kurz darauf geschlossen. Man hätte denken können, mein Dad würde von der Lucifer Street und allem, was an den schrecklichen Unfall erinnerte, fortziehen wollen. Aber am Ende konnte er sich nicht von den gelben Vorhängen und den weißen Fensterrahmen trennen, die Mum selbst gestrichen hatte. Er wollte nicht in die Nobelapartmentsiedlung ziehen, wie Tante Carmen, die in der Innenstadt wohnte, vorschlug. Tante Carmen sagte Dad immer, was er tun sollte.
    »Bring dein Leben wieder ins Gleis und such dir eine gute Frau, Oscar«, flüsterte Tante Carmen, sooft sich die Gelegenheit bot, Dad laut zu. »Der Junge braucht eine Mutter, und du brauchst eine Frau, die sich um euren Haarschnitt kümmert und euch manchmal einen kräftigen Eintopf kocht.«
    »Kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten, Carmen«, entgegnete Dad immer. Tante Carmen lebte allein in einem kleinen Haus voller Porzellanfiguren. Silhouetten von Eichhörnchen waren in die Fensterläden geschnitzt. Mir wurde erklärt, Tante Carmen habe nie geheiratet, weil im Großen Krieg so viele junge Männer gefallen waren, dass nicht mehr genug übrig waren.
    »Ein guter Mann ist verdammt schwerer zu finden als eine gute Frau«, antwortete Tante Carmen meinem Dad jedes Mal spitz.
    Oft geisterte ein Bild durch meinen Kopf von der Frau, die Tante Carmen für uns vorschwebte. Sie sah aus wie die Frau auf dem Coca-Cola-Kalender. Schwarzes, seitlich gescheiteltes Haar, ein Kleid mit schwarz-weißen Querstreifen, volle rote Lippen, die ihre weißen Zähne entblößten.
    »Ich werde nie wieder das Glück haben, jemanden wie deine Mutter zu finden«, sagte Dad. »Eine neue Frau würde Schwierigkeiten machen und im Weg sein.« Damit meinte er, sie würde uns bei den Eisenbahnzügen im Kellergeschoss im Weg stehen.
    Stattdessen lebten Dad und ich ein friedliches Leben. Ich, Oscar junior, war fürs Kochen zuständig, seit ich die Herdplatte erreichen konnte. In der zweiten Klasse war ich, wenn ich auf einem stabilen Stuhl stand, groß genug, um unsere Sonntagspfannkuchen zu wenden und unsere Frühstückswürstchen zu braten. Unser wöchentlicher Speiseplan war eintopffrei.
    Und so sah er aus:
Montag:
Lammkoteletts mit Bratkartoffeln
Dienstag:
Brathähnchen, grüne Bohnen aus der Dose, Bratkartoffeln
Mittwoch:
Hamburger, Bratkartoffeln und Tomaten
Donnerstag:   
Hotdogs und weiße Bohnen
Freitag:
Steak und Karotten
Samstag:
Schweinekoteletts und Kohl
Sonntag:
Schinken und Soße mit Ananasscheiben
    Der Speiseplan änderte sich nie, weil er satt machte. Es gab genug Abwechslung, damit es nicht langweilig wurde, aber
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