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Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)

Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)

Titel: Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
Autoren: Nancy Bilyeau
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Mönchskutte, und in einer Hand hielt er einen hölzernen Stab. Die vier Ecken des Bilderrahmens waren mit geschnitzten Darstellungen eines belaubten Zweigs verziert.
    Mit einem unterdrückten Aufschrei ergriff meine Mutter plötzlich meinen Arm und wies mit der anderen Hand auf eine dunkle Gestalt, die uns vom anderen Ende des Raums entgegenzuschweben schien. Es war, wie wir gleich darauf erkannten, eine hoch betagte Frau, die in ihrem schwarzen Habit und dem schwarzen Schleier beinahe mit der Dunkelheit verschmolz. Mit großen, wässrig blauen Augen blickte sie uns an.
    »Ich bin Schwester Anne. Seid willkommen in St. Sepulchre«, begrüßte sie uns ruhig und freundlich.
    Anders als die Nonne sprach meine Mutter laut und hastig und begleitete ihren Wortschwall mit nervösen Gesten. Wir würdenerwartet, erklärte sie. Uns sei ein Besuch bei Schwester Elizabeth Barton gewährt worden, der Sturm habe die Reise mühevoll gemacht und ich hätte eine leichte Verletzung erlitten, aber wir seien bereit.
    Nachdem Schwester Anne sich das alles gelassen angehört hatte, sagte sie: »Die Ehrwürdige Mutter möchte mit Euch sprechen«, und ging uns mit einer jugendlichen Leichtigkeit, die bei ihrem Alter überraschte, auf dem Weg voraus, den sie gekommen war.
    An zwei Türen vorbei folgten wir ihr durch einen Gang, noch dunkler als der Raum, in dem wir gewartet hatten, und traten schließlich durch eine dritte Tür am Ende des Flurs in ein nicht minder düsteres Zimmer.
    »Aber wo ist die Priorin?«, fragte meine Mutter ungeduldig, als sie sah, dass das Gemach leer war. »Ich habe Euch doch gesagt, dass wir erwartet werden, Schwester.«
    Mit einer Verneigung entfernte sich die Nonne ohne ein erklärendes Wort. Am verkniffenen Mund meiner Mutter sah ich, wie verärgert sie war.
    Zwei Holztische standen in diesem Raum, der eine breit und ausladend, mit einem Hocker dahinter, der andere schmal und ganz an die Wand geschoben. Mir fiel auf, dass der Boden frisch gefegt war und die Wände keine Altersspuren zeigten. Das Kloster mochte bescheiden ausgestattet sein, aber es wurde gewissenhaft instand gehalten.
    »Zeig mir deine Wange.« Meine Mutter schob meine Hand mit dem feuchten Tuch weg. »Es blutet wenigstens nicht mehr. Tut es noch weh?«
    »Nein«, log ich.
    Auf dem schmalen Wandtisch bemerkte ich ein Buch auf einem Lesepult und ging hin, um es mir genauer anzusehen. Das große glänzende Bild auf dem ledernen Einband zeigte einen weißbärtigen Mann in brauner Kutte, mit einem Stab in der Hand. Es erinnerte mich an das Porträt im Empfangsraum, nur war es detaillierter. Das von Glück und Stolz verklärte Gesicht, der Faltenwurfder Kutte, die über dem Haupt des Mannes schwebenden Wolken – alles war in reichen, satt leuchtenden Farben ausgeführt. Ein verschlungener zarter Zweig mit schmalen grünen Blättern bildete die Bildumrandung. Sehr vorsichtig schlug ich das Buch auf. Es war in Latein geschrieben, einer Sprache, mit der ich mich seit meinem achten Lebensjahr beschäftigte. Das Leben des heiligen Benedikt von Nursia , lautete der Titel, und darunter waren die Lebensdaten des Heiligen angegeben: 480 bis 543 A. D. Die Darstellung eines schwarzen Vogels, der einen Brotlaib im Schnabel hielt, schmückte das Blatt. Ich blätterte um und begann zu lesen. Unter der Abbildung eines halbwüchsigen Knaben in einer römischen Tunika hieß es, der heilige Benedikt habe in frühem Alter dem Wohlstand seiner Familie entsagt und der Stadt, in der er aufgewachsen war, den Rücken gekehrt. Die nächste Seite zeigte ihn allein, von Bergen umgeben.
    Ich war so auf das Buch konzentriert, dass ich meine Mutter erst bemerkte, als sie unmittelbar an meiner Seite stand. »Ah, der Gründer des Benediktinerordens«, sagte sie und wies auf die grünen Ranken, die jede Buchseite einfassten. »Der Olivenzweig, das Ordenssymbol.«
    Mein Finger blieb still auf der Seite liegen. Zum ersten Mal seit dem vergangenen Mai, als ich die Sittenlosigkeit am Hof Heinrichs VIII. am eigenen Leib erfahren hatte, regte sich wieder Wissbegier in mir. Lag es an der Macht des Sturms – hatte er mich aus der tiefen Apathie herausgerissen? Oder hatten mich die aufs Wesentliche beschränkte Kargheit des Klosters und die ergreifende Schönheit dieses Buchs, seines kostbarsten Objekts, erweckt?
    Dann öffnete sich die Tür, und eine Frau trat ein, jünger als die Nonne, die uns empfangen hatte, etwa im Alter meiner Mutter, mit scharf gemeißelten Zügen und hohen
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