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Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)

Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)

Titel: Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
Autoren: Nancy Bilyeau
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VIII. den Heiligen, dem wir höchste Verehrung zollten, zum Verräter erklärt und wollte seinen Schrein zerstören lassen. Morgen war der Jahrestag von Beckets Ermordung. Noch vor Ankunft der ersten unerschrockenen Pilger würde die Schändung vollbracht sein. Eben jetzt bemächtigten sich die Männer des Königs des Reliquiars, des kostbaren Schreins mit den Gebeinen des Heiligen. Die sterblichen Überreste Beckets sollten verbrannt und die Asche in alle Winde verstreut werden.
    Es war der letzte grausame Akt des Königs, der mir und allen von uns, die ein geistliches Leben abseits der Welt geführt hatten, bereits alles genommen hatte.
    »Ich habe durch die Seitentür die Gebete des Priors gehört«, berichtete Bruder Oswald flüsternd. »Er hat die Männer des Königs beschworen, noch ein Gebet sprechen zu dürfen, bevor sie den Schrein mitnehmen, und sie haben es ihm gewährt. In wenigen Minuten kommen sie; macht Euch bereit, auf die Straße hinauszugehen.«
    Er bekreuzigte sich. »Gott steht auf unserer Seite«, sagte er ein wenig lauter. »Heute Nacht verrichten wir Sein Werk. Vergesst nicht – der Heilige Vater wird uns segnen. Er weiß nichts vonunserem Unternehmen, aber wenn es getan ist, wird die ganze Christenheit Dank sagen.«
    Wir hatten nicht mehr viel Zeit. Bruder Oswald kniete nieder und betete mit bebender Inbrunst. Vor dreizehn Monaten, als Bruder Edmund und ich ihm zum ersten Mal begegneten, war er voll lächelnder Zuversicht gewesen. Zwar war auch er aus seinem Kloster vertrieben worden und zog nun mit einem Dutzend Schicksalsgenossen heimatlos durchs Land, aber damals glaubte er noch fest daran, dass ihm auf diesen Wanderungen Gottes Absicht offenbart würde. Wochen später traf ich ihn wieder, diesmal von Schlägen bedrängt. Das zuversichtliche Lächeln war erloschen. Aber wann hatte ich selbst denn das letzte Mal gelächelt oder eine Nacht ruhig geschlafen?
    Auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße zwischen dem kleinen Friedhof und der Kathedrale bellte ein Hund. Sein Kläffen brach sich an den Mauern der majestätischen Kathedrale und wurde straßabwärts von einem zweiten Tier erwidert. Ich duckte mich tiefer und bedeckte meinen Mund mit der Hand, um zu vermeiden, dass mein warmer Atem in einer weißen Wolke über dem Grabstein aufstieg. Als das Hundegebell sich entfernte und schließlich verklang, hörte ich Bruder Edmunds Stimme.
    »Schwester Joanna?«
    Selbst im ungewissen Licht des Mondes konnte ich die Veränderung an ihm erkennen, und sie erschreckte mich. Die ruhige Gefasstheit, die mein Freund über Tage gezeigt hatte, nachdem er sich für diesen Weg entschieden hatte, schien zunichte. Die braunen Augen waren voller Schmerz.
    »Habt Ihr Euch anders besonnen?«, flüsterte ich.
    Er gab keine Antwort. Ich fragte mich, was diese Krise hervorgerufen hatte. »Ist es wegen Schwester Winifred?« Ich wusste, wie sehr er an seiner jüngeren Schwester hing. So wie auch ich – sie war meine engste Freundin.
    Auch darauf antwortete er nicht. Die Gebete der anderen näherten sich dem Ende; Stimmengemurmel und das leise Klappern der Rosenkranzperlen wehte über die Gräber.
    »Und Ihr – was ist mit Arthur?«, fragte Bruder Edmund schließlich.
    Ich schlug die Augen nieder, weil ich fürchtete, er würde in ihnen lesen können, was mich bewegte. Nicht Arthur, dem kleinen elternlosen Jungen, der ganz auf mich angewiesen war, galten meine Gedanken, sondern Geoffrey Scovill und seinen mit zorniger Miene hervorgestoßenen Worten: Ihr seid eine Närrin, Joanna. Was Ihr tut, ist Wahnsinn – und es wird nichts bewirken .
    Wenn ich heute Nacht hier, auf den Straßen von Canterbury, getötet würde, wäre das für Geoffrey Scovill, den Constable, der in Zeiten der Not immer für mich da gewesen war, eine Befreiung. Er war neunundzwanzig, zwei Jahre älter als ich, nicht mehr blutjung, doch noch lange nicht alt. Das Band zwischen uns, das so viele Belastungen hatte aushalten müssen, würde zerreißen, und er würde neu beginnen können. Eigentlich hätte dieser Gedanke mir Stärke verleihen müssen, stattdessen war mir so elend vor Schwäche, dass ich den Kopf an den Grabstein lehnen musste.
    »Es ist Zeit, Brüder – und Schwester«, sagte Bruder Oswald, und die anderen traten aus ihren Verstecken hervor. Den Steinbrocken, der mir als Waffe dienen sollte, in der einen Hand, stemmte ich mich mit der anderen vom kühlen Granit hoch und nahm meinen Platz in der Kolonne ein, die sich langsam zur
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