Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Principessa

Die Principessa

Titel: Die Principessa
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
war Zeit, Abschied zu nehmen. In kleinen Wolken stob der Atem aus ihrem Mund – dieser Winter war so kaltwie früher die Winter in ihrer ersten Heimat. Wehmütig ließ sie noch einmal den Blick über das ockerfarbene Häusermeer schweifen, über die zahllosen Kirchen und Paläste, die sie fast alle beim Namen nennen konnte. Ja, diese Stadt war ihr Leben: Die Stadt und ihr Leben, beide hatten sie überreich beschenkt, beide hatten sie vollkommen beraubt.
    Clarissa nickte. Wie sehr hatte Rom sich verändert in den vergangenen fünf Jahrzehnten. Bei ihrer ersten Ankunft war die Stadt noch eine mittelalterliche Festung gewesen. Ohne Ordnung hatte sie sich mit ihren engen und finsteren Gassen um den Tiber gedrängt, eingeschlossen von der alten aurelianischen Mauer, die ein weiter Kranz von Ruinen in wüster und einsamer Gegend umgab, überragt von den zinnenbewehrten Türmen bedrohlicher Burgen, noch ohne die hellen, anmutigen Kirchenkuppeln, die der Silhouette inzwischen ihre Signatur verliehen. Hier hatte sie des Daseins ganze Fülle gekostet, in einer Welt voller Gegensätze: von Glanz und Elend, von Chaos und Größe, von Lebenslust und Sittenstrenge, von Verschlagenheit und Liebenswürdigkeit. Vor allem aber hatte sie hier die Liebe erfahren, die Liebe und die Kunst.
    Die Worte ihres alten Tutors William kamen Clarissa in den Sinn, seine Warnung vor den Versuchungen dieser Welt: das süße Gift des Schönen … Bei der Erinnerung musste sie lächeln. Was für eine Barbarin war sie damals gewesen! Sie hatte nicht einmal gewusst, was eine Tischgabel war, geschweige, wie man sie gebrauchte.
    Sie wandte sich ab und ging zur anderen Seite des Hügelplateaus. Jenseits des Flusses erhob sich, majestätisch wie die Ewigkeit, die Kuppel von Sankt Peter. Das Gotteshaus schien ihre ganze Geschichte zu erzählen: Mit dem Hochaltar hatte sie begonnen, mit der Vollendung der Piazza hatte sie nun ihr Ende gefunden.
    Zwei große schwarze Vögel schwangen sich über dem Dom in den grauen Winterhimmel empor, höher und höher, als wollten sie miteinander wetteifern. Der Anblick versetzte ihr einenStich. Was für kühne Pläne hatten Francesco und Lorenzo einst miteinander geteilt – selbst Michelangelo wollten sie übertrumpfen. Weshalb hatten die beiden Freunde sich entzweit? Wegen ihr? Oder war es das Schicksal?
    Immer höher zogen die Vögel am Himmel ihre Kreise, es war, als würden sie sich in die Unendlichkeit hinaufschwingen. Plötzlich kam Clarissa ein Gedanke, unsicher, zögernd, wie eine Frage. Vielleicht, dachte sie, konnten auch Lorenzo und Francesco wie jene zwei Vögel dort oben nur im Wettstreit vollenden, wovon sie einst gemeinsam träumten. Vielleicht war ihre, Clarissas Schuld, dass durch sie die Freunde zu Rivalen geworden waren, zugleich auch ein Verdienst. Denn während sie einander bekriegten und bekämpften, hatten sie, ohne es selbst zu wissen, das neue Rom errichtet, den Vorgarten zum Paradies: das Rom, das nun zu ihren Füßen lag.
    Clarissa fröstelte. Nur ein Gedanke, um die Last ihrer Schuld zu lindern? Vielleicht – sie wusste es nicht.
    Sie warf einen letzten Blick auf den Dom, da geschah etwas, das ihr die Sinne verwirrte. Ein weißes Flimmern erfüllte auf einmal die Luft, ein geheimnisvolles Funkeln, ein Glitzern und Gleißen, ein Glimmern und Glänzen, fein wie Blütenstaub und gleichzeitig voller Leben wie ein Schwarm von Millionen Schmetterlingen. Noch nie hatte sie das in Rom erlebt. Als hätte eine Fee mit ihrem Zauberstab die Wolken berührt, schwebten weiße Flocken auf die Stadt herab, um sie mit einem tanzenden Schleier einzuhüllen.
    Clarissa musste schlucken, und ihr Herz zog sich in einer Mischung aus Wehmut und leiser Beglückung zusammen. Es war, als wolle Francesco sie zum Abschied grüßen.
    Voller Staunen stand sie da und blickte auf die verwunschene Welt, erfüllt von tiefer Dankbarkeit, während die beiden Vögel sich über Sankt Peter in den tanzenden Flocken verloren.
    Dann hörte das Wunder auf. Zurück blieben ein paar Schneekristalle auf Clarissas faltiger, vom Alter gefleckter Hand.
    Mit einem Seufzer wandte sie sich ab und kehrte zu ihrer Reisekutsche zurück. Im Innern des Wagens lagen eine Decke und ein Muff bereit, um sie zu wärmen. Sie schlug sich die Decke um die Beine, und gerade wollte sie ihre Hände in den Muff stecken, da sah sie, dass die Kristalle auf ihrer Haut zu Wasser geschmolzen waren. Behutsam legte sie den Muff beiseite. Sie wollte die Tropfen nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher