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Die Principessa

Die Principessa

Titel: Die Principessa
Autoren: Peter Prange
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erkennen. Blass flutete das Licht des neuen Tages herein.
    Als Clarissa ihren Freund entdeckte, musste sie sich an einem Pfosten festhalten: ein weißes Gesicht, aus dem sie zwei dunkle stumme Augen anblickten wie ein Gespenst. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ohnmächtig zu werden.
    »Oh, mein Gott! Nein!«
    Ihr Freund lag auf dem Boden, der früher so starke Körper in sich zusammengesunken, hilflos wie ein neugeborenes Menschenkind im Geburtsschleim. Das Nachthemd war blutüberströmt, in der Brust stak ein Schwert, das er mit beiden Händen umklammert hielt, als wolle er es nie wieder loslassen. Clarissa musste ihre ganze Willenskraft aufbieten, um sich aus ihrer Erstarrung zu befreien.
    »Komm, Bernardo, hilf mir! Schnell!«
    Am ganzen Leib zitternd beugte sie sich über den am Boden Liegenden, um seine Hände von dem Knauf zu lösen. Immer noch ruhten seine Augen auf ihr, als verfolge er jede ihrer Bewegungen, ohne sie wirklich zu sehen. Kraftlos hingen seine Mundwinkel herab. Atmete er noch? Seine Hände waren warm, so warm wie das Blut, das an ihnen klebte. Zusammen mit dem Gehilfen zog Clarissa das Schwert aus seiner Brust. Es war, als glitte die Klinge durch ihren eigenen Leib. Dann hoben sie ihrenFreund, so behutsam sie konnten, vom Boden auf und legten ihn auf das Bett. Ohne eine Regung ließ er es mit sich geschehen, als wäre das Leben schon aus ihm gewichen.
    »Lauf und hol den Arzt!«, wies sie Bernardo an, nachdem sie die Wunde mit ein paar Lappen verbunden hatten. »Er soll kommen – sofort! Und«, fügte sie leise hinzu, »wenn du beim Arzt warst, hol auch den Priester!«
    Als sie allein war, setzte Clarissa sich an das Bett. War das der Mann, den sie seit so vielen Jahren kannte? Er war so blass, als hätte er keinen Tropfen Blut mehr unter der Haut.
    »Warum hast du das getan?«, flüsterte sie.
    Sein Gesicht war eingefallen, entstellt, die hohlen Wangen schienen nach innen gestülpt, und seine Augen, die in tiefe Höhlen gesunken waren, starrten ins Leere. Und doch wirkten seine Züge auf seltsame Weise entspannt. War er schon bei den Engeln und sprach mit Gott? Fast schien es Clarissa, als habe er endlich den Frieden gefunden, den er zeit seines Lebens vergeblich gesucht hatte. Sogar die scharfe Falte zwischen den Brauen auf seiner Stirn war verschwunden.
    »Warum hast du das getan?«, flüsterte sie wieder und griff nach seiner Hand.
    Plötzlich spürte sie, wie er den Druck erwiderte, ganz leise nur, ganz zart, aber sie spürte es doch. Jetzt bewegte er die Augen und sah sie an. Ja, er lebte noch, war noch bei Verstand! Ein Zucken ging durch sein Gesicht, er wollte sprechen. Clarissa beugte sich über ihn, legte ihr Ohr an seine Lippen, hörte die Worte, die er mit letzter Kraft hauchte.
    »Ich … ich war auf der Piazza … Ich habe das Wunder gesehen … Es ist … vollkommen …«
    Clarissa schloss die Augen. Er hatte das Geheimnis entdeckt! Wieder spürte sie seinen Atem an ihrem Ohr, er wollte ihr noch etwas sagen.
    »Ein so großartiger Einfall … Meine Idee … Er hat sie gestohlen … Wie … wie konnte er nur wissen?«
    Sie öffnete die Augen und blickte ihn an. Er erwiderte ihrenBlick, ruhig und prüfend, als wolle er in ihre Seele schauen. Wusste er die Antwort auf seine Frage? Doch dann veränderte sich seine Miene; ein feines Lächeln spielte um seinen Mund, und aus seinen dunklen Augen leuchtete eine Art Genugtuung, ein kleiner, zerbrechlicher Triumph.
    »Ich habe alles verbrannt …«, flüsterte er. »Sämtliche Pläne … Er … er wird mir nie wieder etwas stehlen.«
    Sie küsste seine blutbefleckte Hand, streichelte sein weißes Gesicht, das immer noch zu lächeln schien.
    Sie hatte versucht, das Schicksal dieses Mannes zu wenden, sich Befugnisse angemaßt, die allein dem Himmel vorbehalten waren, und er hatte sich in sein Schwert gestürzt. Kein Mensch konnte größere Schuld auf sich laden – das war die einfache, unerträgliche Wahrheit. Und während sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern, drängte sich ihr eine böse Frage auf, eine Frage, die über ihr ganzes Leben entschied: War ein Kunstwerk, und sei es das größte der Welt, ein solches Opfer wert?

ERSTES BUCH
Das süße Gift
des Schönen
1623–1633

1
    Die Mittagshitze lastete wie Blei auf der Stadt Rom. Sie brütete in den menschenleeren Gassen, kroch in die Fugen der Mauern und brachte die jahrtausendealten Steine zum Glühen. Kein Lüftchen regte sich am wolkenlosen Himmel, von dem die Sonne
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