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Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva
Autoren: Andrea Camilleri
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es im Licht glänzte. Wenn Nenè die Augen schloss und mit der Fingerspitze den Körperumrissen einer der Frauen folgte, war es ihm, als berührte er tatsächlich ihre Haut.
    Oft streichelte er mit der Fingerkuppe eine ganz bestimmte Stelle unterhalb des nackten Bauchs der Frau, dort, wo sich zwischen den Schenkeln so etwas wie ein V formte. Er zeichnete kleine Kreise nach, bis sich am Ende Schweißperlen auf seinen Lippen bildeten.
    Die Zeichnungen gefielen ihm sehr – und nicht nur die, die nackte Frauen darstellten. Genauso hatten es ihm die Reime angetan, sodass er über hundert Verse auswendig lernte. Und jedes Mal, wenn er den Namen Angelica las, dachte er an seine Angela.
     
    Angela! Ob sie wohl wieder auf den Dachboden gehen würden, wenn sie aus Cammarata zurückkam? Wenn ja, dann würden sie mit Sicherheit nicht mehr nur spielen, das wusste er. Wahrscheinlich waren ihr mittlerweile Brüste gewachsen! Bei dieser Vorstellung wurde ihm ganz heiß, und sein Herz fing an zu rasen. Dann kam ihm ein anderer Gedanke, bei dem er zusammenzuckte: Was, wenn Angela ihm sagte, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle? Sie war ja inzwischen eine erwachsene Frau und er noch lange nicht so weit wie die anderen. Unmöglich konnte sich Angela mit einem abgeben, der noch so ein kleiner Junge war wie er, einem Zwerg ohne eine Spur von Bartwuchs. Und der folglich auch ein winzig kleines Dingsda hatte.
    »Ciccio, glaubst du, dass ich mal so groß werde wie du?«
    »Was fragst du mich so einen Unsinn?«
    »Sag es mir, bitte!«
    »Weißt du eigentlich, dass du mir diese Frage jeden zweiten Tag stellst?«
    »Bitte, du musst mir antworten!«
    Ciccio wurde ungeduldig.
    »Was glaubst du denn?«, fragte er.
    »Ich komme mir vor wie ein Zwerg.«
    Wortlos nahm ihn Ciccio bei der Hand, führte ihn vor den Schrankspiegel und stellte sich neben ihn.
    »Siehst du denn nicht, dass wir gleich groß sind, du Trottel?«
    Nenè sah sich im Spiegel an. Doch er war nicht überzeugt: Sie waren zwar gleich groß, aber er fühlte sich trotzdem kleiner. Da war nichts zu machen.

Zweites Kapitel
Die Einschiffung nach Kythera
    Kommt auf die Insel Kythera zur Pilgerfahrt mit uns …
     
    FLORENT DANCOURT. Les trois cousines
     
    An Nenès vierzehntem Geburtstag kauften er, Ciccio, Jacolino und noch ein paar andere Schulkameraden je drei Stück Cuddriruni, um die gefüllte Pizza abends gemeinsam an der Scala dei Turchi zu essen, einem einsam gelegenen Hügel aus weißem Marmor, der in breiten Stufen zum Meer führte. Die Freunde waren ausgelassen, nur Nenè schwieg.
    Jacolino erzählte von einem Mädchen aus der Schule, das sich ohne viel Gezeter an die Brüste fassen ließ; Ciccio berichtete, wie es ihm gelungen war, dem Hausmädchen unter den Rock zu fassen. Irgendwann legte Nenè sich ein wenig entfernt von den anderen auf eine Stufe und betrachtete die Sterne. Ihm war wehmütig zumute.
     
    »Morgen früh kommt Angela zurück«, sagte seine Mutter drei Tage später.
    Sie waren gerade mit dem Essen fertig und saßen noch bei Tisch, weil Papà noch seinen Kaffee trank.
    »Wie lange bleibt sie denn?«, fragte Papà.
    »Nur kurz. Dienstag früh fährt sie wieder nach Cammarata zurück.«
    »Dann kann ich sie leider nicht sehen«, sagte Papà. »Heute Abend fahre ich für vier Tage nach Palermo.«
    »Und du, Nenè, freust du dich denn gar nicht?«, fragte Mamà, die sah, dass ihr Sohn den Kopf auf die Brust gesenkt hatte, wie immer, wenn ihn etwas bedrückte.
    »Doch, doch«, sagte Nenè, stand auf und ging in sein Zimmer.
    Er warf sich bäuchlings aufs Bett, damit man sein Herzklopfen nicht hören konnte. Es war so laut, dass er meinte, es dringe bis unten auf die Straße.
     
    Nenè stand mit seiner Mutter auf dem Balkon, als das Auto aus Cammarata vorfuhr. Angelas Vater und Mutter stiegen aus, dann Onkel Stefano und Tante Trisina, und dann sah er sie.
    Nenè hätte sie beinahe nicht wiedererkannt.
    Diese hochgewachsene, elegant gekleidete junge Frau mit den langen schwarzen Haaren, die ihr bis zur Mitte des Rückens reichten, diese Frau, die Ohrringe trug und eine Handtasche am Arm, war Angela. Aber es war eben doch nicht mehr Angela.
    Zur Feier ihrer Rückkehr luden Onkel Stefano und Tante Trisina Nenè und seine Mutter zum Essen ein. Nenè saß seiner Cousine direkt gegenüber und sah sie manchmal durchdringend an, doch jedes Mal, wenn sie den Blick vom Teller hob, schaute sie woandershin.
    Recht hat sie, sagte sich Nenè voller Bitterkeit.
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