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Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva
Autoren: Andrea Camilleri
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Warum sollte eine junge Frau wie Angela sich mit einem abgeben, der ein Zwerg geblieben war? So unbehaart wie ein Wurm?
    Plötzlich vernahm er ein lautes Rauschen, das nicht mehr weggehen wollte, wie das Rauschen der Brandung, sodass er nicht mehr hören konnte, was die anderen sprachen. Ganz sicher war es das Blut, das ihm tosend durch die Adern schoss. Um sich Mut zu machen, trank er ein halbes Glas Wein in einem Zug aus.
    Plötzlich schüttelte seine Mutter ihn am Arm.
    »Was ist denn mit dir, isst du nichts?«
    Dann sagte sie zu ihrer Schwester Trisina gewandt:
    »Also dann, erzähl mir von Angelas Verlobtem.«
    »Er ist ein tüchtiger Junge, er heißt Marco, ist dreiundzwanzig Jahre alt und arbeitet …«
    Angela hatte sich verlobt, in Cammarata!
    Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Sofort setzte das Rauschen in seinen Ohren wieder ein, wie ein tobendes Meer, sodass er nichts mehr hörte. Er wurde leichenblass, alles drehte sich plötzlich. Er musste sich am Tisch festhalten, um nicht vom Stuhl zu fallen.
    »Was hast du denn? Ist dir schlecht?«, hörte er seine Mutter aus weiter Ferne fragen.
    Er antwortete nicht, es gelang ihm gerade, aufzustehen und zur Tür zu wanken.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte Onkel Stefano zu Mamà. »Er hat eben ein halbes Glas Wein runtergekippt.«
    Nenè lief über den Treppenabsatz, der die beiden Wohnungen trennte. In seinem Zimmer warf er sich aufs Bett und konnte endlich ins Kissen weinen.
     
    Nach dem Mittagessen besuchte Angela ihren Großvater und blieb zum Abendessen dort. Nenè ging in der Wohnung auf und ab. Er hatte keine Lust, etwas zu unternehmen oder sich mit Ciccio zu treffen, und als er den Rasenden Roland zur Hand nahm und die Geschichte von Paladin las, der vor Liebe wahnsinnig wurde, hatte er einen Kloß im Hals.
    Er legte das Buch beiseite, ließ sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Er stand erst auf, als seine Mutter ihn zu Tisch rief, zwang sich zu essen, denn Appetit hatte er keinen, und legte sich bald wieder hin.
    Erst gegen sieben Uhr morgens konnte er Schlaf finden. Als seine Mutter ihn weckte, war er völlig benommen.
    »Wach auf. Wir gehen alle zusammen zur Messe, und hinterher besuchen wir die kranke Signora Palumbo. Mach den Schrank auf, da wartet eine Überraschung auf dich.«
    Sobald Mamà aus dem Zimmer war, sprang Nenè aus dem Bett und lief zum Schrank. Er wusste, was er dort finden würde. Seine Mutter hatte ihm vor ein paar Wochen einen Anzug mit langer Hose versprochen, endlich! Einen Männeranzug, den er noch an diesem Sonntag einweihen würde.
    Er ging ins Bad, wusch sich, zog sich an und betrachtete sich anschließend im Spiegel: Vielleicht war die Hose eine Idee zu lang, über den Schuhen warf sie Falten, aber sie stand ihm ausgezeichnet. Auch die Jacke saß gut. Einen Augenblick lang erwog er, so hinauszugehen, wie ein erwachsener Mann, und auf dem Weg von der Messe nach Hause bei Angela vorbeizugehen, aber er überlegte es sich anders und zog die Jacke wieder aus.
    Da hörte er ein Poltern in der Küche. Hatte jemand einen Topf fallen lassen?
    Aber wer konnte das sein? Sie waren doch alle ausgegangen. Er ging nachsehen.
    Es war Angela. Im Unterkleid und barfüßig stand sie mit dem Rücken zu ihm und suchte etwas auf der Anrichte. Ihr Anblick verschlug ihm die Sprache, sein Mund wurde trocken, seine Knie waren plötzlich weich wie Ricotta. Er nahm einen Stuhl und setzte sich hin.
    »Wer ist da?« Erschrocken fuhr Angela herum.
    Nenè konnte nicht antworten, er fing an zu zittern, als er nun, da seine Cousine sich umgedreht hatte, bemerkte, dass sie ein durchsichtiges Kleid trug und nichts darunter.
    »Ich dachte, du wärst zur Messe gegangen«, sagte Angela.
    »Das Gleiche dachte ich von dir«, brachte Nenè mit Mühe hervor.
    »Weißt du zufällig, wo deine Mutter Oregano hat?«
    »Nein.«
    »Mensch, du trägst ja eine lange Hose! Lass dich mal ansehen!«
    Mühsam stand Nenè auf. Angela sah ihn an und machte ein zufriedenes Gesicht, ihre Augen leuchteten.
    »Du bist ein Mann geworden, Nenè!«, sagte sie, streckte die Arme aus und ergriff seine Hand.
    Wie war er in ihre Arme gekommen? Sie hielt ihn so eng umschlungen, dass es wehtat. Nenè roch den Duft ihres Haares und ihrer Haut. Es war ganz anders, als er es in Erinnerung hatte, und die Freude, die er empfand, fühlte sich ein ganz kleines bisschen wie Wehmut an. Plötzlich fing Angela in seinen Armen an zu weinen.
    »Warum weinst du?« Nenè versuchte,
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