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Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva
Autoren: Andrea Camilleri
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Insekten. Ciccio sah ihn wütend an.
    »Das Heft hast du mir versaut!«
    »Entschuldige, ich mach’s ja sofort weg.«
    »Kannst du mir vielleicht mal sagen, was die beiden Fliegen dir getan haben? Die wollten doch nur vögeln.«
    Vögeln! Ciccio hatte das versaute Wort benutzt! Offenbar wusste er Bescheid.
    »Hör mal«, sagte Nenè, während er das Heft mit dem Taschentuch sauber machte, »weißt du, was die Pension Eva ist?«
    »Klar. Das ist ein Puff.«
    »Und weißt du, wie man da an eine Frau kommt?«
    »Man geht rein, sucht sich eine aus, die einem gefällt, vögelt mit ihr, und danach zahlt man die Hurenmarke. Aber es ist Zeitverschwendung, jetzt darüber nachzudenken.«
    »Wieso?«
    »Weil wir noch zu jung dafür sind. Man muss mindestens achtzehn sein.«
    Du lieber Gott, das war ja noch eine Ewigkeit!
     
    Angela kam nach acht Monaten zurück. Sie war in einem Sanatorium in Palermo gewesen. Jetzt sah sie blass und abgemagert aus, ihre Augen wirkten riesig, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Melancholie. In den zwei Tagen, die sie blieb, fand Nenè keine Gelegenheit, sie alleine zu sprechen. Immer kam ihm irgendwer dazwischen. Außerdem schien Angela es auch nicht darauf anzulegen, mit ihm allein zu sein. Sie wurde zu Verwandten ihres Vaters nach Cammarata geschickt. Die frische Luft dort werde ihr guttun, sagten die Ärzte. Sie sollte mindestens ein Jahr wegbleiben.
     
    Das Jahr verging, und Angela kam nicht zurück.
    »Ist sie denn noch nicht gesund?«
    »Doch, sie ist wieder gesund. Aber sie ist so lange in Cammarata zur Schule gegangen, jetzt soll sie auch dort ihren Abschluss machen. Unsere Verwandten dort, ein älteres Ehepaar, betrachten sie schon wie ihre eigene Tochter.«
     
    Jeden Morgen nach dem Aufstehen ging Nenè ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Langsam fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht, aber es wollte ihm einfach kein Bart wachsen, kein einziges Härchen, nicht mal ein Schatten. Es kam ihm vor, als würden seine Klassenkameraden viel schneller erwachsen werden als er: Jacolino zum Beispiel (eigentlich hieß er Enzo, aber alle nannten ihn nur bei seinem Familiennamen) hatte bereits ein Oberlippenbärtchen. Sicher, er war auch zwei Jahre älter und musste die Klasse wiederholen, aber würde er, Nenè, in zwei Jahren ein Oberlippenbärtchen haben? Wahrscheinlich nicht, dachte er betrübt.
    War es möglich, dass er allein dazu verdammt war, ein Leben lang ein kleiner Junge zu bleiben? Dass Angela ihn an jenem Tag auf dem Dachboden angelogen hatte, um ihn zu beruhigen?
    Betrübt ging er ins Arbeitszimmer seines Vaters und zog ein Buch aus dem Regal. Sein Vater hatte ihm erlaubt, alles zu lesen, was er wollte, und ein paar Romane gefielen ihm besonders gut, zum Beispiel die von einem gewissen Conrad, oder von Melville, einem Amerikaner, und von Simenon, einem Franzosen.
    Manchmal, wenn er las, verlor er sich in Gedanken, und es war, als irrte er wie in einem riesigen Wald umher. Er fühlte sich leicht und schwermütig zugleich. Dann musste er innehalten, weil die Zeilen krumm wurden und ineinanderliefen und ihm fast schwarz vor Augen wurde.
    Es war nicht so, wie sich mit Angela als Sandokan oder Tremal-Naik zu verkleiden. Nein, das Lesen raubte ihm Kraft und weckte gleichzeitig ein Verlangen in ihm, das ihn benommen machte wie ein starker Duft – es war wie die Benommenheit eines Betrunkenen, lustvoll und schmerzhaft zugleich.
    Wenn seine Mutter ihn zum Essen rief, hörte er sie nicht einmal. Kam sie dann wütend herein und schüttelte ihn oder gab ihm einen Klaps, sah Nenè sie wie eine Fremde an, blinzelte und erinnerte sich nur mit Mühe, wo er sich befand.
    Einmal kletterte er auf einen Stuhl, um an das obere Fach des Regals zu gelangen, und nahm ein dickes, in rotes Leinen gebundenes Buch heraus, auf dessen Vorderseite der Titel in goldenen Buchstaben geprägt war. Er konnte es fast nicht halten, so schwer war es. Er wollte nur kurz einen Blick hineinwerfen und es dann wieder an seinen Platz zurückstellen. An der Stelle, an der er es aufschlug, war eine Zeichnung von einer nackten Frau, die an einer Art Felsblock festgekettet war und fürchterlich weinte.
    Heilige Muttergottes, wie schön diese Frau war! Die langen Haare, ihre üppigen Schenkel. Und was für schöne Brüste sie hatte!
    Von da an las er täglich im Rasenden Roland von Ludovico Ariost, da besonders die Zeichnungen des Malers Gustave Doré es ihm angetan hatten. Das Papier war dick und so glatt, dass
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