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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten
Autoren: Glenn Cooper
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angeregter Gespräche. Es war ein stimmungsvoll ausgeleuchteter, museumsartiger Raum mit nepalesischen Statuen und Buddhafiguren in den Wandnischen. Ein Tisch mit Blick auf die Winthrop Street stand für sie bereit, aber er war besetzt. Ein einsamer Mann saß an ihm und spielte mit seiner Serviette.
    »Hey, schaut mal, wer da ist!«, rief Zeckendorf.
    Mark Shackleton blickte auf, als hätte er sich vor diesem Moment gefürchtet. Seine kleinen, engstehenden Augen, die teilweise durch den Schirm einer Lakers-Kappe verdeckt waren, zuckten von links nach rechts und musterten einen nach dem anderen. Will erkannte Mark auf Anhieb, obwohl er seit mehr als achtundzwanzig Jahren, also seit ihrem ersten Studienjahr, keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt hatte. Das gleiche hagere Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden Augen und der hohen Stirn, die gleichen angespannten Lippen und die scharfe Nase. Mark hatte nicht wie ein Teenager ausgesehen, als er noch einer war; und inzwischen war er einfach älter geworden, ohne sich groß zu verändern.
    Die vier Zimmergenossen waren eine bunt zusammengewürfelte Truppe: Will, der unbekümmerte Sportnarr aus Florida, Jim, der redegewandte Privatschüler aus Brookline, Alex, der sexbesessene angehende Medizinstudent aus Wisconsin, und Mark, der in sich gekehrte Computerfreak aus dem nahegelegenen Lexington. Sie waren im Holworthy, an der Nordseite des baumbestandenen Harvard Yard, in eine Viererbude gezwängt worden, zwei winzige Schlafzimmer mit Doppelstockbetten und ein Gemeinschaftsraum, der dank Zeckendorfs reicher Eltern halbwegs anständig möbliert war. Will war in jenem September als Letzter im Wohnheim angekommen, weil er mit den Saisonvorbereitungen der Footballmannschaft beschäftigt gewesen war. Mittlerweile hatten sich Alex und Jim zusammengetan, und als er seinen Seesack über die Türschwelle schleppte, hatten die beiden gekichert und auf das andere Schlafzimmer gedeutet, wo er Mark vorfand, der stocksteif auf dem unteren Bett lag, als hätte er Angst, sich von der Stelle zu rühren.
    »Hey, wie geht’s?«, hatte Will ihn gefragt, das kantige Gesicht zu einem breiten Lächeln verzogen. »Wie viel wiegst du, Mark?«
    »Fünfundsechzig Kilo«, hatte Mark misstrauisch geantwortet, während er sich darum bemühte, dem Jungen, der da vor ihm aufragte, unerschrocken ins Auge zu sehen.
    »Tja, ich bring’s in Unterhosen auf hundert Kilo. Bist du sicher, dass du meinen schweren Arsch in dem wackligen Bett über dir haben willst?«
    Mark hatte tief geseufzt, wortlos sein Lager geräumt und sich damit für immer in die Hackordnung gefügt.
    Sie unterhielten sich über alles, was ihnen in den Sinn kam, planlos und aufs Geratewohl, wie bei einem Wiedersehen eben üblich. Sie tauschten Erinnerungen aus, lachten über peinliche Begebenheiten, ergingen sich in Indiskretionen und verbreiteten sich über alte Macken. Die beiden Frauen waren ihr Publikum, der Anlass für Anekdoten und Aufschneidereien. Zeckendorf und Alex, die dicke Freunde geblieben waren, betätigten sich als Conférenciers und zogen sich gegenseitig auf, wie zwei Stegreifkomiker auf der Bühne. So schlagfertig war Will nicht, aber seine Erinnerungen an ihr chaotisches erstes Jahr, ruhig und bedächtig vorgetragen, fesselten die beiden Damen nichtsdestotrotz. Nur Mark schwieg die ganze Zeit, lächelte höflich, wenn sie lachten, trank sein Bier und stocherte in seinem panasiatischen Essen herum. Zeckendorfs Frau war von ihrem Mann beauftragt worden, Fotos zu schießen; sie lief ein ums andere Mal um den Tisch, rückte sie in Pose und knipste.
    Zimmergenossen im ersten Studienjahr sind wie eine instabile chemische Verbindung. Sobald sich das Umfeld verändert, kommt es zu einem Bruch, und die Moleküle driften auseinander. Im zweiten Studienjahr zog Will mit anderen Footballspielern ins Adams House, Zeckendorf und Alex siedelten gemeinsam ins Leverette House über, und Mark wohnte allein im Currier. Will sah Zeckendorf ab und zu im Kurs über Verwaltungsrecht, aber im Grunde genommen hatten sie sich alle in ihre eigene Welt verzogen. Nach dem Examen blieben Zeckendorf und Alex in Boston, und beide meldeten sich von Zeit zu Zeit bei Will, gewöhnlich dann, wenn sie in der Zeitung etwas über ihn lasen oder ihn im Fernsehen sahen. Keiner von ihnen verschwendete auch nur einen Gedanken an Mark. Er geriet in Vergessenheit, und wenn Zeckendorf nicht den Anlass genutzt und Marks E-Mail-Adresse irgendwo ausgegraben hätte,
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