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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan
Autoren: Boris Akunin
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DIE SCHWARZE MAPPE DES KOMMISSARS COCHE
     
     
    Aus dem Protokoll der Tatortuntersuchung, vorgenommen am Abend des 15. März 1878 in der Villa von Lord Littleby, Rue de Grenelle (7. Pariser Arrondissement):
     
    Aus ungeklärten Gründen befand sich die gesamte Dienerschaft im Anrichteraum im Parterre der Villa, links vom Vestibül (Raum 3 in Schema 1). Die genaue Lage der Leichen ist aus Schema 4 zu ersehen, es sind dies:
     
    Nr. 1 der Haushofmeister Etienne Delarue, 48
    Nr. 2 die Haushälterin Laura Bernard, 54
    Nr. 3 der Kammerdiener des Hausherrn Marcel Proux, 28
    Nr. 4 der Sohn des Haushofmeisters, Luc Delarue, 11
    Nr. 5 das Stubenmädchen Arlette Foch, 19
    Nr. 6 die Enkelin der Haushälterin, Anne-Marie Bernard, 6
    Nr. 7 der Wächter Jean Lesage, 42, der im Spital Saint-Lazare am 16. März verstarb, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben
    Nr. 8 der Wächter Patrick Trois-Bras, 29
    Nr. 9 der Türsteher Jean Carpentier, 40
     
    Die Leichen Nr. 1–6 befanden sich in sitzender Stellung rund um den großen Küchentisch: Nr. 1–3 mit dem Kopf auf den gekreuzten Armen, Nr. 4 mit der Wange auf den flachen Händen, Nr. 5 auf dem Stuhl zurückgelehnt und Nr. 6 auf dem Schoß von Nr. 2 sitzend. Nr. 1– 6 hatten ruhige Gesichter ohne die geringsten Anzeichen von Angst oder Leiden. Die Leichen Nr. 7–9 lagen, wie aus dem Schema ersichtlich, in einiger Entfernung vom Tisch. Nr. 7 hielt eine Trillerpfeife in der Hand, doch keiner der Nachbarn hat an dem betreffenden Abend einen Pfiff gehört. In den Gesichtern von Nr. 8 und 9 ist Entsetzen oder zumindest äußerste Verwunderung zu erkennen (die photographischen Aufnahmen werden morgen früh vorgelegt). Es gibt keine Kampfspuren. Körperliche Verletzungen wurden bei einer ersten Untersuchnung nicht entdeckt. Die Todesursache zu ermitteln ist ohne Obduktion unmöglich. An Hand der Leichenstarre stellte der Gerichtsmediziner Maître Bernheim fest, daß der Tod zu verschiedenen Zeiten eingetreten ist, zwischen 22 Uhr (Nr. 6) und 6 Uhr, während Nr. 7, wie schon erwähnt, später im Spital verstarb. Ohne den Ergebnissen des medizinischen Gutachtens vorgreifen zu wollen, wage ich zu behaupten, daß alle Opfer unter der Einwirkung eines starken Giftes mit schnell einschläferndem Effekt standen, und der Zeitpunkt des Herzstillstands war abhängig entweder von der Giftdosis oder von der physischen Stabilität des jeweiligen Vergifteten.
    Die Eingangstür der Villa war angelehnt. Ein Fenster der Orangerie (Punkt 8 in Schema 1) zeigte deutliche Einbruchspuren: Die Scheibe war zerschlagen, und auf der lockeren Erde unter dem Fenster fand sich der undeutliche Abdruck eines Männerschuhs mit einer 26 Zentimeter langen Sohle, vorn spitz und der Absatz mit Eisen beschlagen (die photographischen Aufnahmen werden nachgereicht). Wahrscheinlich ist der Täter vom Garten her ins Haus eingedrungen, und zwar nachdem die Dienerschaft vergiftet und eingeschläfert war, sonst hätte sie das Klirren des Glases gehört. Unbegreiflich ist, warum der Täter, als die Bediensteten schon unschädlich gemacht waren, durch den Garten das Haus betrat — er hätte ja seelenruhig die Tür des Anrichteraums benutzen können. Wie dem auch sei, der Täter stieg von der Orangerie hinauf in den ersten Stock, wo die persönlichen Gemächer von Lord Littleby liegen (Schema 2). Wie aus dem Schema ersichtlich, gibt es in der linken Hälfte des ersten Stocks nur zwei Räume: den Saal mit der Sammlung indischer Raritäten und das unmittelbar angrenzende Schlafzimmer des Hausherrn. Die Leiche Lord Littlebys ist in Schema 2 als Nr. 10 eingezeichnet (als Umriß). Der Lord trug eine Hausjacke und eine Tuchhose, der rechte Fuß war dick mit einer Binde umwickelt. Eine erste Untersuchung der Leiche ergab, daß der Tod durch einen ungewöhnlich heftigen Schlag mit einem länglichen schweren Gegenstand auf den Schädel eintrat. Der Schlag wurde von vorn geführt. Der Teppich ist auf mehrere Meter ringsum mit Blut und Gehirnmasse vollgespritzt. Spritzer sind auch auf der zerschlagenen Glasvitrine, in der sich, nach einem Schildchen zu urteilen, eine Statuette des indischen Gottes Schiwa (Schrift auf dem Schildchen: »Bangalore. 2. H. d. 17. Jh., Gold«) befand. Die verschwundene Skulptur hatte vor dem Hintergrund bunter indischer Tücher gestanden, von denen auch eines fehlt.
     
    Aus dem Bericht Doktor Bernheims über die Ergebnisse der pathologisch-anatomischen Untersuchung der Leichen aus der Rue de
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