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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten
Autoren: Glenn Cooper
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schien ein netter Typ zu sein, hatte Humor und war höflich. Also willigte sie ein, aber als er ging, um sein Auto aus dem Parkhaus zu holen, bekreuzigte sie sich trotzdem vorsichtshalber.
    Als sie sich der Abzweigung zu ihrem Haus an der Fingerboard Road näherten, schien er mit einem Mal schlechte Laune zu bekommen, und sie wurde unruhig. Die Unruhe schlug in Angst um, als er an ihrer Straße vorbeiraste, ohne auf ihren Protest zu achten. Schweigend fuhr er eine Viertelmeile auf der Bay Road weiter, bog dann scharf nach links in die N Road ein und hielt sich in Richtung Arthur von Briesen Park.
    Als sie das Ende der dunklen Straße erreicht hatten, weinte sie; er fuhr sie an und fuchtelte mit einem Taschenmesser herum. Dann packte er sie am Arm, zerrte sie aus dem Auto und drohte damit, ihr wehzutun, falls sie schrie. Auf ihren schmerzenden Knöchel nahm er keine Rücksicht mehr. Hastig zog er sie durch das Gebüsch zum Wasser. Sie zuckte bei jedem Schritt vor Schmerz zusammen, hatte aber zu große Angst, um einen Laut von sich zu geben. Die dunklen, massigen Umrisse der Verrazano-Narrows Bridge zeichneten sich vor ihnen ab wie ein bösartiges Wesen. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Auf einer Lichtung warf er sie zu Boden und entriss ihr die Handtasche. Als sie anfing zu schluchzen, befahl er ihr, still zu sein. Er durchwühlte ihre Habseligkeiten und steckte die paar Dollar ein, die sie dabeihatte. Da fand er die schlichte weiße Postkarte mit ihrer Adresse, dem von Hand gemalten Sarg und dem Datum, 22. Mai 2009. Er betrachtete die Karte und lächelte sadistisch.
    »¿Piensas que yo te envió este postal? – Denkst du, ich habe dir diese Karte geschickt?«, fragte er.
    »No lo sé«, schluchzte sie und schüttelte den Kopf.
    »Bueno, entonces te envio esto – Gut, dann schick ich dir das hier«, sagte er lachend und schnallte seinen Gürtel auf.

10. Juni 2009 – New York City
    Will vermutete , dass sie immer noch weg war, und sein Verdacht bestätigte sich, als er die Tür öffnete und seinen Rollkoffer und die Aktentasche abstellte.
    Das Apartment sah genauso aus wie vor der Zeit mit Jennifer. Die Duftkerzen – weg. Die Tischsets im Esszimmer – weg. Die Rüschenkissen – weg. Ihre Kleidung, die Schuhe, Kosmetika und die Zahnbürste – alles weg. Er beendete seine kurze Tour durch die Wohnung und öffnete die Kühlschranktür. Sogar die dämlichen Flaschen mit vitaminhaltigem Mineralwasser waren weg.
    Er war zu einem zweitägigen Sensibilisierungstraining fort gewesen, das man ihm bei seiner letzten Leistungsbeurteilung verordnet hatte. Wenn sie überraschend zurückgekehrt wäre, hätte er ein paar neue Techniken mit ihr ausprobiert, aber Jennifer war immer noch weg.
    Er löste seine Krawatte, schleuderte die Schuhe von den Füßen und öffnete den kleinen Barschrank unter dem Fernseher. Ihr Briefumschlag steckte unter einer Flasche Johnny Walker Black, an der gleichen Stelle, an der er ihn an dem Tag gefunden hatte, als sie ihn verlassen hatte. Außen drauf stand mit ihrer unverwechselbaren weiblichen Handschrift »Fuck you«. Er goss sich ein großzügiges Glas ein, legte die Füße auf den Couchtisch und las um der alten Zeiten willen den Brief noch einmal, der ihm ein paar Dinge über ihn selbst mitteilte, die er eigentlich längst wusste. Dann lenkte ihn ein Klirren vom Lesen ab. Er hatte ein gerahmtes Bild, das an der Wand gelehnt hatte, mit dem großen Zeh umgestoßen. Zeckendorf hatte es geschickt: die vier einstigen Zimmergenossen bei ihrer Wiedersehensfeier im vorigen Sommer. Ein weiteres Jahr – einfach weg.
    Eine Stunde später, als er vom Alkohol schon leicht benebelt war, stieß ihm eine von Jennifers Ansichten ziemlich sauer auf: Du hast wirklich Fehler ohne Ende.
    Fehler ohne Ende, dachte er. Eine interessante Vorstellung. Unbelehrbar. Hoffnungslos. Keine Chance auf eine Rehabilitierung oder entscheidende Besserung.
    Er schaltete das Spiel der Mets an und schlief auf dem Sofa ein.
     
    Fehler hin oder her, am nächsten Morgen um acht saß Will an seinem Schreibtisch und ging seine Mails durch. Er tippte ein paar Antworten, dann schickte er eine E-Mail an Susan Sanchez, seine Vorgesetzte, die ihn für das Seminar empfohlen hatte, an dem er gerade teilgenommen hatte. Seine Sensibilität hatte um 47 Prozent zugenommen, schätzte er, und er rechnete damit, dass sie sofort messbare Ergebnisse erkennen würde. Will unterzeichnete die Mail so sensibel wie möglich und klickte
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