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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten
Autoren: Glenn Cooper
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Immer war er mit irgendetwas beschäftigt, und als er sich der 82 nd Street näherte, ließ er sich eine Reihe anstehender Aufgaben durch den Kopf gehen. Die Postkarte hatte er glücklicherweise vergessen. Als er in die bedrohlich düstere, von Bäumen gesäumte Straße einbog, hätte der gewiefte Großstadtüberlebenskünstler in ihm beinahe eine andere Route eingeschlagen – und er überlegte kurz, ob er bis zur 83 rd weitergehen sollte –, aber als ausgebuffter Börsenmacho wollte er nicht den Feigling spielen.
    Stattdessen wechselte er auf die nördliche Straßenseite der 82 nd , damit er den dunkelhäutigen Jungen im Auge behalten konnte, der auf etwa einem Drittel des Wegs den Block hinunter auf dem Gehsteig herumlungerte. Falls der Typ ebenfalls die Straße überquerte, würde es vermutlich Ärger geben, dann könnte er immer noch Bloomie auf den Arm nehmen und losrennen. Swish war in der Schule Langstrecke gelaufen. Und da er regelmäßig Baseball spielte, war er immer noch schnell. Seine Nikes saßen perfekt. Also scheiß drauf, selbst im schlimmsten Fall konnte ihm nichts passieren.
    Der Junge lief ihm auf der anderen Straßenseite entgegen, es war ein schlaksiger Kerl, der sich seine Kapuze weit über den Kopf gezogen hatte, sodass seine Augen nicht zu erkennen waren. Swish hoffte, dass ein Auto oder ein anderer Fußgänger vorbeikommen würde, aber die Straße blieb bis auf die zwei Männer und den Hund völlig verlassen. Es war so ruhig, dass Swish die neuen Sneakers des Jungen auf dem Asphalt quietschen hörte. Die Gebäude lagen im Dunkel, ihre Bewohner schliefen noch. Das einzige Haus mit einem Portier stand am anderen Ende der Straße kurz vor der Lexington Avenue. Sein Herz schlug schneller, als sie auf gleicher Höhe waren. Kein Blickkontakt. Bloß kein Blickkontakt. Er lief weiter. Auch der Junge lief weiter, und der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich.
    Er warf einen kurzen Blick über die Schulter und atmete auf, als er sah, dass der Junge auf die Park Avenue abbog und um die Ecke verschwand. Ich bin ein verdammter Waschlappen, dachte er. Und Vorurteile habe ich noch dazu.
    Auf halber Höhe der Straße schnupperte Bloomie an seiner Lieblingsstelle und hockte sich hin. David begriff nicht, warum er den Jungen nicht gehört hatte, bis er fast bei ihm war. Vielleicht war er abgelenkt gewesen, hatte an seinen ersten Termin mit dem Chef der Kreditabteilung gedacht, den Hund betrachtet, sich daran erinnert, wie Helen letzte Nacht ihren BH weggeschleudert hatte, oder aber der Junge war ein Meister im Anschleichen. Doch all diese Gedanken waren jetzt überflüssig.
    David bekam einen Schlag an die Schläfe und sank in die Knie. Einen Moment lang war er beinahe mehr fasziniert als erschrocken über den plötzlichen Angriff. Der Schlag machte ihn benommen. Er sah, wie der Hund sein Geschäft beendete. Er hörte etwas von Geld und fühlte Hände, die seine Taschen durchwühlten, sah ein Messer vor seinem Gesicht aufblitzen. Er spürte, wie ihm die Uhr abgestreift wurde, dann sein Ring. Dann fiel ihm die Postkarte ein, diese gottverdammte Postkarte, und er hörte sich fragen: »Hast du sie geschickt?« Und meinte den Jungen noch antworten zu hören: »Ja, ich hab sie geschickt, du Arsch.«

Ein Jahr zuvor – Cambridge, Massachusetts
    Will Piper kam zeitig, um sich noch einen Drink hinter die Binde zu gießen, bevor die anderen eintrafen. Das überfüllte Restaurant in der Nähe des Harvard Square nannte sich OM, und Will nahm das trendige panasiatische Ambiente achselzuckend zur Kenntnis. Der Laden war nicht unbedingt nach seinem Geschmack, aber in der Lounge gab es eine Bar, und der Barkeeper hatte Eiswürfel und Scotch, und damit waren seine Mindestansprüche erfüllt. Skeptisch musterte er die aus grob, aber kunstvoll behauenen Steinen gemauerte Wand hinter der Bar, die Videoinstallationen auf den Flachbildschirmen ringsum, die neonblauen Lichter und fragte sich: Was mache ich hier?
    Noch vor einem Monat wäre es für Will völlig unvorstellbar gewesen, am fünfundzwanzigjährigen Abschlusstreffen seines College-Jahrgangs teilzunehmen, doch hier war er, zurück in Harvard, mit Hunderten anderer Siebenund Achtundvierzigjähriger, und fragte sich, wo ihre alte Frische geblieben war. Jim Zeckendorf, ganz der eifrige Anwalt, der er war, hatte Will und die anderen so lange gnadenlos mit E-Mails bombardiert und ihnen gut zugeredet, bis sie einwilligten. Allerdings hatte sich Will nicht auf das ganze
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