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Die Luft, die du atmest

Die Luft, die du atmest

Titel: Die Luft, die du atmest
Autoren: Carla Buckley
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getan?
Ich erinnerte mich noch gut, wie Mom die Tür versperrt hatte, sodass Dad ums Haus gehen musste, um Jake reinzuholen. Ich sagte es nicht laut, aber Mom nickte. Ich glaube, sie wusste, woran ich dachte. Sie schien inzwischen einigermaßen ihren Frieden damit gemacht zu haben.
    Sie steckte Kerzen in einen bunten Ring, wobei sie jede vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger nahm. So rührte sie auch ihren Eistee um, als ob sie einen Stift in der Hand hielte. Vertraute Kleinigkeiten wie diese taten mir gut. Ihre Liebe zu mir war durch nichts zu erschüttern gewesen. Das hatte mir damals durch die schweren Jahre geholfen. Ich wusste nicht, ob ich je eine so starke Frau werden könnte wie sie.
    «Frank hat mir einen Heiratsantrag gemacht», gestand ich fast wider Willen.
    Sie sah mich an. «Und?»
    Ich schüttelte den Kopf.
    «Mein Schatz   –»
    Ich war den Tränen nahe. «Mom, ich kann es einfach nicht.»
    Meine Nichte machte die Tür auf. «Beeil dich, Grandma. Die Sonne geht unter.»
    Es war Zeit.
    Ich trug den Kuchen hinaus. Kayla stieg auf eine Kiste, um die Kerzen auszupusten. Alan fuhr ihr durchs Haar. Petey lag schlafend in Maddies Armen. Ich stellte einen Teller vor Onkel Mike, obwohl es sinnlos war. Ihm war das Kinn auf die Brust gesackt, und er schnarchte leise. Jacob und Frank würden ihn nachher ins Gästezimmer tragen.
     
    Am nächsten Morgen holte mich Mom in ihr Atelier. Sie hatte die Garage umgebaut und ein Oberlicht installiert. Noch eine Veränderung. Meine Mutter überraschte mich immer wieder. Ihre frühen Bilder, Aquarelle in sanften Farben, lagen in Schränken gestapelt. Eines Tages würden sie Maddie, Jacob und mir gehören, hatte sie gesagt, wenn wir sie haben wollten.
    Ich wollte. Aber noch mehr liebte ich die Arbeiten, die sie jetzt machte. Große Bilder in kräftigen Acrylfarben. Aus den Wirbeln und Linien und Formen las ich Mut und Entschlossenheit heraus. Hoffnung.
    Sie nahm eine Holzkiste aus dem Schrank, stellte sie auf ihren Zeichentisch und winkte mich an ihre Seite. «Ich finde, es ist Zeit, dass ich dir das hier zeige.»
    Ich hatte die Kiste noch nie gesehen. Sie klappte den Deckel auf, und ich trat näher.
    Papiere, Dutzende, mit vergilbten Kanten und zu einem sauberen Stapel geordnet. Verschwenderisch viel Papier. Interessant, wie viel man früher aufgeschrieben hatte. Aber noch kostbarer war die Schrift auf diesen Seiten – schmal und schräg und bis ganz an den Rand, mit Pfeilen, die auf andere Themen verwiesen.
    «Was ist das?»
    «Das Buch, an dem dein Vater schrieb. Und ein paar andere Kleinigkeiten.»
    In ihrer Stimme lag so viel Zärtlichkeit. Ich bin froh, dass Mom und Dad sich versöhnt haben, bevor er starb. Ich weiß noch, wie ich eines Morgens aufwachte und sie engumschlungen in der Küche standen. Ich spürte sofort, dass etwas zwischen ihnen anders war. War es meine Teenagerphantasie, die mir sagte, dass sie nie aufgehört hatten, sich zu lieben, auch nicht in dem furchtbaren Jahr, in dem sie getrennt waren? Ich nahm das oberste Blatt in die Hand und versuchte die Worte zu entziffern.
     
    Wildvögel und die Gewässer, in denen sie
    leben, sind seit Jahrhunderten mal mehr,
    mal weniger von Viren befallen.
    Dieses Auf und Ab ist ein komplizierter,
    natürlicher Prozess, in dessen
    Wellenbewegungen auch der Austausch
    zwischen Wild- und Zuchtvögeln einfließt.
     
    Und danach hatte dieser Prozess die Menschheit erfasst und fast die halbe Weltbevölkerung dahingerafft. Später schätzte man, dass an die 40   Prozent der Amerikaner an der Vogelgrippe gestorben waren. 120   Millionen Menschen. Darunter Freunde von mir. Nachbarn. Die Welt war uns hinterher viel kleiner erschienen. Die Überlebenden waren von Misstrauen gezeichnet. Ich weiß noch, wie Autos auf der Autobahn sichbeeilten, an uns vorbeizusausen. Ich weiß noch, wie ich als Teenager geredet habe, schnell und ungeduldig. Das alles ist vorbei. Die Leute fahren wieder normal. Ich halte inne, bevor ich den Mund aufmache. Wie alle anderen auch.
    Ich legte das Blatt beiseite und sah mir das nächste an.
Sparrow Lake
, las ich und sagte nachdenklich: «Das ist der See, an dem Dad den ersten toten Vogelschwarm gefunden hat.»
    «Ja, aber nicht nur das. Euer Vater hat den See geliebt, er war für ihn weit mehr als ein Forschungsgegenstand.»
    Die Handschrift auf der nächsten Seite kannte ich. «Das habe ich geschrieben», sagte ich überrascht. «Maddie und ich mussten Briefe an alle Nachbarn schreiben.
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