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Die Luft, die du atmest

Die Luft, die du atmest

Titel: Die Luft, die du atmest
Autoren: Carla Buckley
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Mutter stundenlang am Computer saß und Leuten dabei half, ihre verlorenen Angehörigen und Freunde wiederzufinden.Aber die entscheidende Veränderung war eigentlich erst später gekommen, als Mom wieder anfing zu malen und sich herausstellte, dass es ein unglaublich großes Interesse an postpandemischer Kunst gab. Eines Morgens kam ich in die Küche, und Mom war schon draußen auf der Terrasse. Sie stand an einer Staffelei, die ich noch nie gesehen hatte, und während ich beobachtete, wie sie die Palette hielt und sich vorbeugte, um die alte Birke in all ihrer Pracht wiederauferstehen zu lassen, ging mir auf, dass ich sie überhaupt nicht richtig kannte. Vermutlich war das der Moment, an dem sich unser Verhältnis besserte. Wie gesagt, nicht alle Überraschungen sind schlecht.
    «Ich habe einen Sohn», sagte Shazia. «Ali.» Sie wandte sich Jacob zu, der neben Mom stand und uns neugierig beobachtete. «Er ist ungefähr so alt wie du.» Dann schüttelte sie den Kopf. «Ich kann es immer noch nicht glauben. Du bist schon ein Mann.»
    «Schön wär’s, was, kleiner Bruder?», sagte ich, und Jacob und ich grinsten uns an.
    Mom berührte Shazias Arm. «Ich würde ihn gerne mal kennenlernen.»
    Shazia nickte. «Das fände ich auch schön. Im Augenblick studiert er in Kairo. Aber ich habe Bilder dabei.»
    Später servierte Alan Kürbissuppe und Garnelen-Paprika-Spieße zu Paella. Jacob und Onkel Mike zündeten die Gartenfackeln an, und Jacob gab acht, dass Onkel Mike keinen Unsinn anstellte. Überall brannten Kerzen, flackernd und hell, und es duftete nach Blumen, Sandelholz, Vanille und Gewürzen.
    Die untergehende Sonne spielte im Geäst der Bäume. Mal blitzte ein langer goldener Lichtstrahl auf, dann wieder ein leuchtendes Rot.
    Ich half Mom in der Küche mit dem Kuchen. Es war dergleiche wie immer, Möhrenkuchen mit einem Guss aus Frischkäse.
    Früher hatte ich immer genörgelt. ‹Warum können wir keine richtige Torte haben?›, hatte ich gefragt.
    Inzwischen war es mein absoluter Lieblingskuchen.
    «Hat Shazia dir erzählt, wo sie damals hingegangen ist?», flüsterte ich, obgleich sonst niemand in der Küche war.
    Mom schüttelte den Kopf. «Sie will nicht drüber reden.» Sie schob die Schublade mit der Hüfte zu und drehte sich mit einem Stapel Teller um. «Das ist nicht so ungewöhnlich.»
    Ich nickte. Es gab Dinge, über die auch wir nicht redeten.
    «Aber ich glaube nicht, dass sie ihn gefunden hat.»
    «Wen? Alis Vater?»
    «Vielleicht erzählt sie es uns irgendwann. Wir lernen uns ja gerade erst wieder kennen.»
    «Trotzdem hätte sie schreiben oder anrufen können, um dir zu sagen, dass alles okay ist. Sie muss doch gewusst haben, dass ihr euch Sorgen macht, du und Dad.»
    «Ich glaube, sie hatte Schuldgefühle.»
    «Weswegen?»
    «Dein Vater hat mal so was erwähnt. Er war ins Labor gefahren, um die Proben vom zweiten großen Vogelsterben zu analysieren, und als er wiederkam, war er ziemlich durcheinander. Die Zahl stimmte nicht mit den Proben vom ersten Mal überein. Ein Röhrchen fehlte. Er wollte nicht drüber reden, aber ich bin später dahintergekommen, nachdem er gestorben war.»
    Dad war auf hochpathogene H 5-Viren gestoßen. Die Uni hat seine Aufzeichnungen aufbewahrt. Jahre später durfte ich sie mir ansehen. Er war ein gründlicher Wissenschaftler.
    «Ihm ist eine Probe abhandengekommen? Das klingt aber gar nicht nach ihm.»
    «Es ist auch nicht ihm passiert, sondern Shazia.» Mom hob den Kopf und schaute hinaus auf die Terrasse, wo schon alle am Tisch saßen. Dann sah sie mich an. «Sie muss ihr runtergefallen sein oder so was. Und sie ist mit zu uns gekommen, obwohl sie wusste, dass sie dem Virus ausgesetzt gewesen war.»
    «Was?» Die Nachricht machte mich sprachlos. Ich lehnte mich an die Küchentheke und starrte sie an. Bei dem Gedanken, was hätte passieren können, sträubten sich mir die Haare.
    «Gott sei Dank ist sie nicht krank geworden. Eine Zeit lang war ich ihr böse. Dann ging mir auf, dass sie das Beste getan hatte, was ihr unter den Umständen möglich war. Es war besser, eine vierköpfige Familie dem Risiko auszusetzen als ein ganzes Studentenheim. Dein Vater hätte es genauso gemacht.»
    «Aber sie hätte doch etwas sagen müssen.»
    «Stell dir vor, was für Angst sie ausgestanden haben muss, Kate. Sie war damals sechsundzwanzig Jahre alt und Tausende von Meilen von ihrer Familie entfernt. Sie kannte mich nicht. Sie wusste nicht, was ich tun würde.»
    Und was hätte sie
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