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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Autoren: Emily Wu
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Prolog
    Besuch
    Als ich ein kleiner Junge war, erzählte mir meine Großmutter von einem entfernten Onkel, der zur Zeit der Kulturrevolution in China lebte. Er versprach, seinen Verwandten in den USA ein Foto von sich zu schicken. Falls alles in Ordnung war, würde er stehen. War das Leben schlecht, würde er sitzen. Auf dem Bild, das er uns dann schickte, so flüsterte meine Großmutter, habe er auf dem Boden gelegen.
    David Henry Hwang ( 1997 )
    Das Straflager ist zehn Kilometer vom Bahnhof entfernt. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es nicht. Besucher müssen zu Fuß zum Lager gehen. Die Frau, die mich trägt, setzt mich auf ihre Hüfte und fragt, ob es bequem für mich ist. Vor uns liegt die letzte Etappe unserer Reise.
    Die Frau bleibt stehen, um sich auszuruhen. Es gibt keine Bänke, keine Bäume, kein Gras, nicht einmal Unkraut. Unter einer gnadenlosen, sengenden Sonne erstreckt sich eine öde, ausgedörrte, leblose Landschaft. Es ist Samstag, der 3 . Juni 1961 , mein dritter Geburtstag. Bald werde ich meinen Vater sehen – zum ersten Mal.
    Wir kommen an etlichen Stellen vorbei, wo sich nahe der Straße Reihen niedriger Erdhügel erheben. In jedem dieser Hügel steckt ein Holzpfahl mit einer eingeritzten Nummer. Es sind die Gräber von Gefangenen – Männern, Frauen und Kindern. Die Regierung will nicht, dass die Gefangenen ihre Zeit damit verschwenden, Tote zu begraben. Verwandte werden herbestellt, um die Gräber auszuheben und die Habe der Verstorbenen abzuholen. Schattengleich überholen uns Menschen, die Schaufeln und kleine Säcke tragen. Traurige, leere Augen blicken mich an.
    Eine Stunde später: Die Frau bleibt stehen und setzt mich ab. Sie blickt in die Ferne und überlegt, ob sie es schaffen wird, bevor die kurze Besuchszeit vorbei ist.
    Da taucht ein alter Mann auf einem Pferdekarren auf. Er trägt graubraune Lumpen und eine abgewetzte Mütze. Seine Haut ist dunkel und von der Sonne gegerbt, das kleine Gesicht verschrumpelt, der Mund zahnlos. Auf dem Karren türmt sich Stroh. Sein Pferd ist nur Haut und Knochen und trottet dahin, als wäre jeder Schritt sein letzter. Die Frau stellt sich mitten auf die Straße und winkt dem Mann, damit er anhält. Er zügelt das Pferd und schaut uns mürrisch an, ohne ein Wort zu sagen.
    »Würdest du uns zum Lager fahren?«, bittet die Frau. »Ich kann nicht mehr. Und ich will nicht zu spät kommen. Meine Tochter soll heute zum ersten Mal ihren Vater sehen.«
    Der Mann betrachtet sein Pferd und denkt kurz über ihre Bitte nach. Dann erwidert er: »Mein Pferd ist krank und schwach. Mehr kann es nicht ziehen.«
    »Bitte«, fleht die Frau. »Nur meine Tochter. Ich gehe nebenher und halte sie fest. Es wäre viel einfacher für mich. Und uns bleibt nur noch wenig Zeit.«
    »Na gut«, willigt der Mann ein. »Setz sie drauf.«
    Sie macht im Stroh eine Kuhle für mich und hebt mich auf den Karren. Meine Beine baumeln seitwärts herab. Dann schnalzt der Mann mit der Zunge, und das Pferd fällt wieder in seinen schleppenden Trott.
    Während wir zum Lager fahren, ruht die Hand der Frau auf meinen Beinen. Nach einer Weile dreht sich der Fuhrmann zu uns um: »Woher kommt ihr?«
    »Aus der Provinz Anhui«, antwortet die Frau.
    »Da hattet ihr einen weiten Weg.«
    »Ja.«
    »Wie alt ist die Kleine?«
    »Sie ist heute drei geworden.«
    Er wendet sich wieder um und betrachtet mich. »Wie heißt du?«, fragt er.
    Ich antworte nicht.
    »Sie heißt Yimao«, sagt die Frau. »Feder. Ihr Vater hat sie nach einem Gedicht von Du Fu benannt. Kennst du es? ›Eine Feder im Himmel auf ewig‹?«
    »Ja«, erwidert der Fuhrmann und blickt wieder auf die Straße. »Auch ich habe Du Fu gelesen. Vor langer Zeit.«
    »Wohnst du in der Nähe?«
    »Nicht in der Nähe.
Hier.
«
    »Was hast du gemacht, bevor du hierhergekommen bist?«
    »Ich war Grundschullehrer.«
    »Und bist du schon lange hier?«
    »Acht Jahre.«
    »Hast du Kinder?«
    »Ja.«
    »Und darfst du bald nach Hause zurück?«
    Er dreht sich abermals um und sieht die Frau unverwandt an, als wollte er ergründen, ob sie die Frage ernst meint. »Nein«, sagt er schließlich.
    Diese Antwort ist der Frau unangenehm, und sie stellt keine Fragen mehr.
    »Dein Mann«, sagt der Fuhrmann, »der Vater des Mädchens – was ist mit ihm? Was hat er gemacht?«
    »Er war Professor. In Peking.«
    »Professor!«, wiederholt der Fuhrmann und nickt. »Und was hat er gelehrt?«
    »Englisch. Er hat an einer amerikanischen Universität studiert.«
    »Er
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