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Alles oder nichts

Alles oder nichts

Titel: Alles oder nichts
Autoren: A. A. Fair
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1

    Gemächlich hob und senkte sich die Motorjacht auf den ruhigen Wogen des Stillen Ozeans. Den meisten Passagieren war es offensichtlich noch zu früh am Morgen, denn nur ein paar vereinzelte Angelruten ragten in verschiedenen Neigungswinkeln über die Reling der Jacht hinaus. Im Osten hatte die Sonne gerade die Höhe des hinter der kalifornischen Küste aufsteigenden Gebirgszuges erreicht.
    Bertha Cool hatte sich mit furchtgebietender Unnahbarkeit in einem Sessel niedergelassen, die Füße gegen die Reling gestützt, und hielt mit festem Griff eine lange Bambusrute in den Händen. Ihre grauen, eiskalten kleinen Augen richtete sie aufmerksam auf die Stelle des Wassers, wo ihre Angelleine unter der Oberfläche verschwand. Gespannt erwartete sie das erste noch so geringfügige Zucken an der Leine.
    Nach einer Weile griff sie in die Tasche ihrer Wolljacke, zog eine Zigarette hervor, steckte sie in den Mundwinkel, und ohne den Blick von der Angel abzuwenden, fragte sie: »Hast du Feuer?«
    Ich senkte meine Angelrute auf die Reling, klemmte sie zwischen die "Knie, um sie in ihrer Lage zu halten, zündete ein Streichholz an, beugte mich zu ihr hinüber und hielt es wortlos an das Ende ihrer Zigarette.
    »Danke«, sagte sie und zog den Rauch mit einem tiefen Zug ein.
    Durch ihre Krankheit hatte Bertha einen großen Teil ihres überschüssigen Gewichtes verloren. Damit sie schnell wieder zu Kräften käme, hatte ihr der Arzt dringend geraten, sich viel in frischer Luft aufzuhalten. Zu meiner Überraschung hatte sie am Angeln Geschmack gefunden und betrieb es mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Sonne und Meereswind hatten sie bereits gebräunt und gekräftigt. Noch immer kletterte der Zeiger auf der Skala der Waage auf hundertundsechzig Pfund, aber es waren nicht mehr die Fettmassen früherer Tage.
    Rechts neben mir saß ein fülliger Mann. Beiläufig sagte er: »Nicht viel los heute morgen!«
    Ich murmelte eine höfliche Zustimmung.
    »Sie sind schon eine ganze Weile hier draußen?«
    »Ja, schon länger.«
    »Haben Sie schon was gefangen?«
    »Nicht sehr viel.«
    Schweigend beobachteten wir eine Zeitlang unsere Angeln, dann begann er wieder: »Mir ist es gleichgültig, ob ich etwas fange oder nicht. Ich genieße es, ruhig und ungestört im Freien zu sitzen und die Meeresluft zu atmen.
    »Ganz meine Meinung«, bestätigte ich.
    »Meine Nerven sind so weit herunter, daß das Läuten des Telefons mich ebenso aufschreckt wie das Krachen einer Bombe.« Er lachte, als wolle er sich entschuldigen, und fuhr fort: »Dabei kommt es mir häufig so vor, als hätte ich erst gestern mit meiner Praxis begonnen. Damals saß ich an meinem Schreibtisch und starrte erwartungsvoll auf das Telefon, als ob ich es dadurch zum Läuten bewegen könnte. Genau wie Ihre...entschuldigen Sie, die Dame ist doch nicht Ihre Gattin, oder doch?«
    »Nein.« .
    »Zuerst dachte ich, sie sei Ihre Mutter, aber dann kam mir der Gedanke, daß man heutzutage nie wissen kann...Nun, jedenfalls beobachtet sie ihre Angelleine genauso wie ich damals mein Telefon.«
    »Sind Sie Rechtsanwalt?« fragte ich.
    »Nein. Ich bin Arzt.«
    Nach einer Pause fing er wieder an: »So geht es uns Ärzten. Wir sind so stark davon in Anspruch genommen, für die Gesundheit anderer Leute zu sorgen, daß wir ünsere eigene vernachlässigen. Am Morgen Operationen, anschließend Visite im Krankenhaus, jeden Nachmittag Sprechstunde, am Abend Besuche bei Privatpatienten, und genau in dem Augenblick, in dem man endlich zu Bett gegangen und eingeschlafen ist, ruft irgendein Patient an, der den ganzen Tag über schon Schmerzen gehabt hat, und verlangt, daß man ihn sofort besucht.«
    »Sind Sie auf Urlaub hier?«
    »Nein, ich suche nur eine kleine Entspannung. Die leiste ich mir jeden Mittwoch...« Er zögerte, ehe er hinzufügte: »Ich muß es. Mein Arzt hat es mir verordnet.«
    Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er war etwas zu dick, und seine oberen Augenlider schienen geschwollen zu sein. Ich hatte den Eindruck, als falle es ihm schwer, die Augen zu öffnen. Seine Hautfarbe war bleich, ihre Tönung erinnerte an Kuchenteig.
    Mit einem Seitenblick auf Bertha meinte er: »Sie sieht sehr gesund aus.«
    »Das ist sie auch. Sie ist übrigens meine Chefin.«
    Ein verblüfftes »Oh?« war seine ganze Antwort.
    Vielleicht hatte Bertha unserer Unterhaltung zugehört, vielleicht auch nicht. Jedenfalls hatte sie nicht eine Sekunde ihre Angelleine aus den Augen gelassen, die sie beobachtete wie
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