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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Autoren: Emily Wu
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mich herum und beteuerten, was für ein hübsches Mädchen ich sei.
    »Sag ihnen, wie du heißt. Und wie alt du bist«, forderte Mama mich auf.
    »Ich heiße Maomao«, sagte ich, »und ich bin … fast vier.«
    Die Frauen lachten. »Hört euch diesen Akzent an!«, gluckste die eine, während sie sich die Hand hinters Ohr hielt. »Wie alt, hast du gesagt, bist du?«, fragte die andere, beugte sich herab und starrte mich erwartungsvoll an.
    »Fast vier«, antwortete ich, worauf die beiden kichernd meinen Akzent nachahmten.
    Mama schmunzelte und tätschelte mich zärtlich.
    Am Abend sagte sie, dass ich tagsüber bei Papa bleiben würde, während mein Bruder ins Kinderbetreuungszentrum der Universität gebracht wurde. »Wir können es uns einfach nicht leisten, euch beide hinzuschicken«, erklärte sie mir.
    Wenn Mama zur Arbeit gegangen war, putzte Papa die Wohnung, erledigte die täglichen Besorgungen und kochte uns dann das Mittagessen. Wenn es das Wetter zuließ, ging er danach mit mir auf dem Campus spazieren. Manchmal spielte er mit mir Verstecken oder erzählte mir Geschichten. Aber nach einer Weile hatte er genug davon und vertiefte sich in seine Bücher. Erst wenn er meinen Bruder vom Kinderbetreuungszentrum abholte, wurde er wieder unternehmungslustiger.
    Unsere Wohnung war klein – drei Zimmer und eine Küche. Ein Raum diente als Schlafzimmer für meinen Bruder und mich, ein anderer als Wohn- und Esszimmer. Nachts schliefen meine Eltern hier. Der dritte Raum, etwa so groß wie eine Tischtennisplatte, wurde als Abstellkammer benutzt. Unsere wenigen Möbel waren von der Universität gemietet, mit Ausnahme des Kinderbettchens, das in der Familie meiner Mutter bereits seit zwei Generationen weitervererbt worden war.
    Nach dem Abendessen übte mein Bruder am Schreibtisch chinesische Schriftzeichen. Mein Vater saß daneben auf einem Schemel, wobei ihm ein Stuhl als Tischersatz diente. Sobald mein Bruder mit seinen Hausaufgaben fertig war, setzte Papa sich an den Schreibtisch und arbeitete dort bis spät in die Nacht.
    Ich hörte Papa, wie er tippte, seinen Stuhl zurechtrückte und in seinen Büchern und Unterlagen blätterte. Mama schlief längst, während er englische Romane ins Chinesische übersetzte. Von Zeit zu Zeit erschien er an der Tür unseres Zimmers und betrachtete uns still, wie wir in unseren Betten lagen. »Papa?«, flüsterte ich dann manchmal, und er erwiderte: »Schlaf, Maomao, du weckst sonst noch deinen Bruder.« Papa rauchte billige Zigaretten der Marke »Große Eisenbrücke«, die neun Fen das Päckchen kosteten. Sie erfüllten die Luft mit einem beißenden Geruch und färbten seine Fingerspitzen gelblich. Außerdem hinterließen sie ein unvergessliches Mal auf dem Wollteppich unter dem Schreibtisch, einem Hochzeitsgeschenk von Großmama.
    Einmal wurde ich mitten in der Nacht von Schreien aus dem Zimmer nebenan geweckt. Rauch drang in alle Räume. Papa war am Schreibtisch eingeschlafen. Dabei war seine brennende Zigarette auf den Teppich gefallen, der nun brannte. Mama eilte mit einer Thermoskanne voll Wasser herbei, um das Feuer zu löschen, doch da hatte der Teppich bereits ein Brandloch.
    Unser Tisch dagegen war etwas Besonderes. Wir versammelten uns zum Essen um ihn und machen oft Spiele darauf. Auch hier hatte Papa bemerkenswerte Spuren hinterlassen.
    Er nahm mich oft auf einen der Märkte mit. Manchmal gingen wir zu Fuß, doch wenn sie weiter weg waren, setzte er mich vor sich auf unser altes Fahrrad, und wir radelten hin. Da Lebensmittel rationiert waren und Papa über kein Einkommen verfügte, war die Auswahl für uns sehr begrenzt.
    Essen war knapp und Geld noch knapper. Mama erhielt ihren Lohn monatlich in bar. Davon gingen zuerst unsere laufenden Kosten ab: die Miete für die Wohnung und die Möbel, die Abgaben für Wasser, Strom und Kohle, Gewerkschaftsbeiträge und die Gebühr für den Platz meines Bruders im Kinderbetreuungszentrum. Meine Mutter verdiente 59  Yuan im Monat oder etwa 196  Fen pro Tag. Auf dem Schwarzmarkt kostete ein Ei 50 bis 60  Fen. Somit entsprach das tägliche Budget für unsere vierköpfige Familie nicht einmal dem Wert von vier Eiern, und das noch vor allen Abzügen.
    Eines Morgens machte Papa einen Händler ausfindig, der winzige Fische verkaufte: Sie waren nur etwa ein bis zwei Zentimeter lang. Zu normalen Zeiten wäre das Katzenfutter gewesen. Papa kaufte zwei Pfund für uns. Später sah ich zu, wie er jeden Fisch mit der Spitze eines Messers
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