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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Autoren: Emily Wu
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Die Kinder brachten normale Gummibänder in die Schule mit, die zu einem langen Band zusammengeflochten wurden. Wenn es ausfranste oder riss, flickten wir es mit neuen Gummibändern.
    Auf dem Spielplatz lernte ich, im Sprechchor zu rufen und zu zählen. Und langsam entwickelte ich Geschicklichkeit beim Gummihüpfen. Bald konnte ich sogar ohne Hinsehen springen, einfach indem ich die Bewegungen der Kinder vor mir beobachtete. Wir lernten, im Einklang zu springen, ohne aus dem Rhythmus zu kommen und uns zu verheddern. Zunächst erschien mir das nur als ein angenehmer Zeitvertreib. Doch nach einer Weile stellte ich fest, dass dieses Spiel die ideale Vorbereitung auf das war, was in dieser Welt der sozialistischen Gleichförmigkeit, in die wir hineingeboren worden waren, von uns erwartet wurde.
    Mein Eintritt in das Betreuungszentrum stellte mich vor drei Probleme.
    Erstens sprach ich einen ausgeprägten Tianjin-Dialekt. Schüler und Lehrerinnen bekamen Lachanfälle, wenn sie mich reden hörten.
    Mein zweites Problem war nicht minder belastend. Wenn ich einen Ball warf oder meine Essstäbchen nahm, tat ich es mit der linken Hand, und das war nicht statthaft. In fast allen Lebensbereichen wurde unter kommunistischer Herrschaft auf Uniformität geachtet, und so hatte auch jedermann die rechte Hand zu benutzen. Linkshändigkeit galt als Abweichung, die korrigiert werden musste. Als die Lehrerinnen darauf aufmerksam wurden, nahmen sie mir anfangs den Schreibpinsel oder die Essstäbchen aus der Linken und drückten sie mir in die Rechte, aber ich wechselte immer gleich wieder zur Linken. Da gingen sie dazu über, mir einen Klaps auf die Hand zu geben. »Lass das, Wu Yimao!«, fauchten sie mich von hinten an. »Musst du denn immer aus der Reihe tanzen!«
    Schließlich hatten sie es satt und befahlen einem anderen Mädchen, Qin Xiaolan, sich neben mich zu setzen und beim Mittagessen und bei Schreibübungen ein Auge auf mich zu haben. Immer wenn ich die linke Hand gebrauchen wollte, flüsterte sie: »Du tust es schon wieder, Maomao.« Sie war beharrlich und geduldig, und dank ihrer Ermahnungen brachte ich es allmählich zu einer gewissen Fertigkeit mit der rechten Hand. Aber in Schönschrift war ich nie gut, und noch heute habe ich Schwierigkeiten, wenn ich die Essstäbchen in der rechten Hand halten muss.
    Mein drittes Problem ließ sich nicht lösen. Ich stammte aus einer »schwarzen« Familie, einer, der man rechtsabweichlerische, reformistische oder antirevolutionäre Tendenzen vorwarf. In diesen Familien ging die Schuld der Eltern auf ihre Kinder über. Wir wurden gettoisiert. Mir war nicht klar, dass ich einer solchen Gruppe angehörte, bis ich es aus dem Tuscheln anderer Kinder im Betreuungszentrum heraushörte. Die Lehrerinnen kannten meinen familiären Hintergrund und sorgten dafür, dass ich möglichst nur mit Kindern aus anderen schwarzen Familien Umgang hatte. Man gab uns zu verstehen, dass wir eine verdorbene Brut seien. Aus einer schwarzen Familie zu stammen war, als hätte man eine ansteckende Krankheit, die man über gesellschaftlichen oder körperlichen Kontakt auf andere übertragen könnte.
    Kinder aus »roten« Familien – von Parteimitgliedern und hohen Tieren an der Universität – bildeten eine eigene, geschlossene Clique. Sie saßen im Unterricht nebeneinander, spielten zusammen auf dem Spielplatz, aßen gemeinsam zu Mittag. Sie kamen und gingen zusammen. Xiaolan hatte man nicht nur deshalb aufgetragen, mir zu helfen, weil sie eine fleißige Schülerin war, sondern auch, weil sie wie ich einer schwarzen Familie angehörte. Für sie galt es als akzeptabel, näheren Umgang mit mir zu haben.
    Mit der Zeit überwand ich meine Anfangsschwierigkeiten. Ich lernte, mit der rechten Hand zu schreiben und die Essstäbchen zu halten, und ich gewöhnte mir meinen Dialekt ab. Ich wusste, dass meine Familie schwarz war und dass sich daran nichts ändern ließ. Ich nahm meine neuen Eltern und meinen Bruder als meine wahre Familie an. Das Gleiche galt für meine neue Großmutter, als sie aus Peking zu uns kam.
    Doch meine Familie in Tianjin habe ich niemals vergessen. Oft dachte ich an meine Großmama. Und in meinen Träumen kehrte ich noch viele Male nach Tianjin in die Glücksgasse zurück.

Kapitel 7
    M ein zweiter Bruder wurde am 2 . Juli 1963 geboren. Papa nannte ihn Yicun, das bedeutet »ein Dorf«. Der Name stammt aus einem Gedicht von Lu You, einem Lyriker des 12 . Jahrhunderts, in dem »ein Dorf« für die
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