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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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die Angst, die Wut und die Machtlosigkeit und all die anderen Gefühle, die der Krankenhauspsychologe erwähnt hatte, aus mir heraus, als hätte ich ein Leck. Als lebten sie versteckt in meinem Inneren und suchten nur nach der Gelegenheit, die sie zum Ausbruch nutzen konnten. Ein Riss in der Jeans, und dann strömten und drängten sie hinaus, in Form von Tränen und meistens auch Geschrei. Ich war ebenso unvorbereitet wie Flox.
    «Du erschreckst ja die Kleine», sagte er. Anna hatte tatsächlich zu weinen angefangen, er ging mit ihr hinaus, machte die Tür leise, aber bestimmt hinter sich zu, murmelte vor sich hin: «Alles gut, Süße, alles gut! Mami ist ein bisschen traurig, so wie du manchmal. Wollen wir zwei vielleicht mal schauen, was dein Bär so macht? Vielleicht hat er ja Hunger. Wir könnten ihm was kochen, eine Suppe vielleicht, was meinst du?», und Anna antwortete deutlich: «Ja!», und sah wahrscheinlich auf dem Arm ihres großartigen, netten, ruhigen, liebevollen Papas sehr zufrieden und geborgen aus, während ihre hysterische, unfähige, geistesgestörte Mutter heulte, wegen einer Jeans.
    Während ich dick blieb, verlor meine Großmutter Gewicht, sie schien es zu verlieren wie ich meinen Schlüsselbund vor drei Wochen oder mein Handy vor einem Jahr. Jedes Mal, wenn ich sie besuchte, schien sie noch mehr in sich zusammengesackt als beim letzten Mal. Es fiel mir auf, wenn sie dann aufstand, um in ihr Zimmer zu gehen, das ich ihr würde zeigen müssen, weil sie nicht mehr wusste, dass sie ein eigenes Zimmer hatte, geschweige denn, wo. Wenn sie vor mir herlief, zwei, drei Schritte alleine, weil ich die Tür hinter uns schloss, schien es mir, als habe sie beim Aufstehen aus dem Sessel, in dem sie fast immer saß, um von dort in die Leere zu starren, als habe sie da wieder ein Kilo verloren, als seien sie aus ihr herausgefallen, während sie sich zum Aufstehen an den Lehnen oder an mir abstützte und dabei seufzte, als mache das Aufstehen keinen Sinn. Sie aß an den meisten Tagen nichts außer Astronautennahrung, manchmal noch zwei Schlucke Hühnersuppe dazu, Hühnersuppe, die meine Mutter ihr kochte, nicht ich, und immer, wenn ich sah, wie sie ihr Astronautennahrung verabreichten, ver-ab-reich-ten, ihr den Mund aufhielten, so wie ich manchmal der Katze, um ihr Medizin einzuflößen, und ich nur in ihrem Blick erkannte, dass sie sich wehrte, weil in ihrem Körper nicht mehr genug Kraft zum Wehren war, dann wusste ich nicht: Sollte ich mich freuen, weil ich in ihrem Blick einen Funken Geist erkannte, oder mich übergeben, weil es meine Großmutter war? Dann aß ich, statt mich zu übergeben, noch mehr als an anderen Tagen, wie ich an jenen Tagen auch mehr an den Listen schrieb.
    Ich aß mehr und schrieb nur noch kurze Kolumnen, deren Länge sich in Zeilen anstatt in Seiten messen ließ, und das alles in München, immer war ich in München, nicht mehr in der Welt, die Welt schien sich erstaunlich weit weg von München zu befinden. Und nun brauchte ich eine neue Jeans, weshalb ich wie selbstverständlich in die Junge-Designer-Abteilung beim Ludwig Beck marschiert war und gerne einen Anstecker gehabt hätte: «Früher, als ich noch nicht so aussah, habe ich häufig hier eingekauft!» Ich überwand mich und bat den coolen Verkäufer mit der roten Hornbrille, den Designerhosen und den silbernen Sneakers, mir Jeans in Größe dreiunddreißig zu holen, ich sprach die Zahl «dreiunddreißig» betont laut aus, weil ich meinte, zu mir selbst stehen zu müssen, was ich in dem Moment bereute, in dem er erwiderte: «Ich muss erst mal schauen, ob wir überhaupt was in Größe dreiunddreißig haben.» Er sprach ebenfalls laut.
    «Eine Hüftjeans eher nicht für dich, oder?», fragte er, als er mit zwei Hosen zurück war, die aussahen, als hätte sie auch unsere Nachbarin tragen können, eine Frau Ende vierzig, die ich im Einwohnermeldeamt arbeitend vermutet hatte, bis ich erfuhr, dass sie Latein an einem altsprachlichen Gymnasium unterrichtete, immerhin, auch eine Beamtin.
    «Nee, jetzt gerade nicht», antwortete ich, als könnte sich das jeden Tag ändern. «Früher habe ich gerne hüftige Jeans getragen, aber seit der Geburt meiner Tochter …» Er sah befremdet und angewidert aus, er wollte über Geburten und Kinder im Allgemeinen nichts hören. Ich hätte ihm gerne erklärt, dass ich das gut verstand, mir ging es genauso, aber ich sagte lieber nichts. Als ich die Jeans angezogen hatte und mich im Spiegel anstarrte,
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