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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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lebten. Vielleicht hatten sie alle Einzelwohnungen? Aber wie schafften sie das? Waren die Häuser höher? Grischa hatte seinen Vater gefragt, warum man die Häuser hierzulande nicht einfach höher baute, dann gäbe es mehr Platz für alle. Sein Vater hatte keine Antwort geben können, und der arbeitete immerhin auf der Baustelle. Er wollte gerne genug Vorstellungskraft für so eine Maschine haben. Jurkas Onkel war Dolmetscher, in höheren Diensten, und er war drüben gewesen, vier Tage lang, er war im Flugzeug geflogen, und hätte Jurka nur einen Deut lauter gesprochen, dann hätte es nicht nur der ganze Umkleideraum, sondern die gesamte Schule gehört (und alle hatten sie zugehört, auch die älteren Jungen aus der siebten und der achten, die sich gerade umzogen). Es ärgerte ihn, dass Jurka nicht gut erzählen konnte. Er selbst hatte keinen Dolmetscher-Onkel (nur einen, der viel trank, und zwei andere, von denen er nicht wusste, was sie machten), er kannte auch niemanden, der drüben gewesen sein könnte, er kannte überhaupt niemanden, der jemals irgendwo war (na gut, Tante Mascha war schon einmal auf der Krim gewesen und hatte ihm eine Muschel mitgebracht, durch die er angeblich das Meeresrauschen hören konnte, aber er hörte nichts, und jetzt verstaubte die Muschel in seinem Bücherregal), er wusste also nichts von solchen Dingen und hätte dennoch bessere Geschichten von Jurkas Onkel und seinen Tagen drüben erzählen können.
    Er hatte sich seine Jacke angezogen, seinen Turnbeutel nicht am Haken gefunden, die Aufregung seiner Mutter (er hörte sie schon: «Schon wieder? Schon wieder? Wie machst du das? Was denkst du, dass Turnsachen auf Bäumen wachsen?») in Kauf genommen und war nach Hause gegangen, um die schlecht vorgetragenen Geschichten von Jurka nicht mehr hören zu müssen. Hatte Jurka vielleicht gar keinen Onkel? Oder keinen, der Dolmetscher war? Aber woher hatte er sonst diesen Schlüsselanhänger, an dem dieser maskierte Mann hing, der einen blauen Gymnastikanzug und einen roten Umhang trug und ein rot-gelbes Emblem auf der Brust hatte? Jurka sagte, das sei ein englisches S. Er sagte auch, dieser Mann sei sehr wichtig, er komme aus einem amerikanischen Buch mit vielen Bildern. Ein Kinderbuch also? Er fragte nichts, um Jurka nicht mit zu viel Aufmerksamkeit zu glorifizieren. Er hätte zu gerne einen Onkel gehabt, der ihm solche Schlüsselanhänger mitbrachte. Jurka trug seinen am Reißverschluss der Jacke und kontrollierte auf dem Schulweg wie zwanghaft jede Minute, ob er noch da war. Während des Unterrichts steckte er ihn in die Hosentasche und versicherte sich auch da – selbst bei Klassenarbeiten – minütlich seines Vorhandenseins. Grischa hätte nicht übel Lust gehabt, Jurka den Anhänger abzunehmen, aber Jurka war einen Kopf größer, und eigentlich hatte er so etwas gar nicht nötig.
    Der Gedanke an die Maschine ließ ihn den ganzen Nachhauseweg nicht los, während er die Delegatskaja überquerte, durch den Park lief und im Hof wie immer kurz auf den Spielplatz abbog, um einmal die Rutsche zu rutschen, als wäre er wieder sechs (es sah ihn ja keiner), die ganze Zeit dachte er daran, versuchte, sich diese Maschine vorzustellen, und ärgerte sich, weil es ihm nicht gelang. Zu Hause schrieb er die Maschine trotzdem in die Amerika-Liste, er wollte sie in Klammern setzen und ließ es dann, weil die Punkte alle aus unsicheren Quellen stammten. Seine Lehrer, so ahnte er inzwischen, lieferten auch keine zuverlässigeren Informationen als die älteren Jungs im Hof. Zwei der Jungen, mit denen er Fußball spielte, hatten einen Fernseher zu Hause, dort sahen sie wohl manchmal die USA . Er hätte alles für einen Fernseher gegeben, einen Fernseher wünschte er sich noch mehr als einen Fotoapparat. Er hatte nur einmal ferngesehen, als er krank war und nicht zur Schule konnte. Tante Mascha hatte auf ihn aufgepasst und ihn zu einer Freundin mitgenommen. Der Fernseher war groß, er hatte nicht den Knopf drücken dürfen, der machte, dass kurz ein Licht auf dem Bildschirm (Bildschirm, das Wort hatte er an jenem Tag gelernt) aufflammte und sofort wieder erlosch, dann rauschte es eine Weile, bevor sich also auf diesem Bildschirm Menschen bewegten. Erst nur als Schatten, aber nach ein paar Minuten konnte man sie deutlich sehen. Sein Vater hatte sich im Betrieb in die Warteschlange für so einen Fernseher einschreiben können, er, sein Bruder und seine Schwester hatten gebettelt, der Kommunalka-Mitbewohner
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