Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
Vom Netzwerk:
entfuhr mir unwillkürlich ein «Das bin doch nicht ich», und ich setzte mich auf die schmale Bank, die mehr zum Kleidungsstücke-Ablegen als zum Sitzen gedacht war, holte mein Notizbuch hervor, blätterte und fand die aktuelle Liste der Dinge, die ich nie habe sagen wollen, aber jetzt sage, und schrieb unter
    «Ich komme ja kaum zum Duschen, geschweige denn dazu, mir Gedanken über mein Outfit zu machen.»
    und «Früher habe ich auch gern gelesen.»
    und «Ich muss nach Hause, der Babysitter wartet.»
    und «Zum Schreiben kommt man auch nicht mehr.»
    und «Dann treffen wir uns, nachdem Anna ihren Mittagsschlaf gemacht hat.»
    und «Ach ja, früher sind wir auch so viel gereist.»
    «Das bin doch nicht ich».
    Vielleicht, dachte ich, ist man als Mutter ja auf solche Sätze abonniert, vielleicht werden sie von den gleichen Hormonen produziert, die auch für die Muttermilch verantwortlich sind oder für die immer noch erstaunliche Tatsache, dass man so ein Kind doch nicht irgendwann vom Balkon schmeißt, weil es einem nun wirklich reicht (das Geschrei, das Gequengel, das «Nein» aus Prinzip, die Wutanfälle, das Kaputtmachen, und dabei war Anna erst zwei). Ich zog die neue Jeans wieder aus und die Schwangerschaftsjeans, die ich aus der Kiste mit Umstandsklamotten im Keller geholt hatte, morgens, nachdem Flox verschwunden war, wieder an, beides mit dem Rücken zum Spiegel. Auf dem Weg zur Kasse blieb ich am Fenster stehen und erspähte in der Touristenmenge plötzlich einen großen, glatzköpfigen Mann, der vom Rathaus abgewandt stand und gebannt auf das graue Gebäude gegenüber des Rathauses starrte, wohin ich nun auch schaute, aber in den oberen Stockwerken dieses Gebäudes sah ich nichts außer Fenstern. Ich suchte den Glatzkopf, er blickte immer noch nach oben. Über den könnte ich eine Geschichte schreiben, dachte ich auf einmal und war bei diesem Gedanken plötzlich aufgeregt.
    Mein Telefon klingelte, ich erkannte die Nummer, es war Annas Kita. Ich zuckte zusammen, das Herz, dachte ich sofort und zwang mich, an Durchfall oder eine Platzwunde zu denken, während ich abnahm. Flox sagte, ich müsse lernen, an Anna als Kind, nicht an Anna, das Kind mit einem halben Herzen, zu denken. Ihre Erzieherin. Dreiundzwanzig Jahre jung, Jeansgröße achtundzwanzig, sie war vor zwei Tagen von einem Musikfestival zurückgekommen, als ich sie danach gefragt hatte, hatte sie keinerlei Interesse an einer Unterhaltung mit mir darüber gezeigt, ich war für sie eine Mutter, und dass ich früher kein Festival ausgelassen hatte, in Deutschland, in Europa, wegen einem nach Südamerika geflogen war, interessierte sie nicht oder glaubte sie mir nicht, diese Erzieherin sagte, Anna habe Durchfall, ich solle sie abholen kommen.
    Ich beeilte mich an die Kasse, um meine zwei Jeans in Größe dreiunddreißig zu bezahlen, zweimal dasselbe Modell, weil sonst nichts gepasst hatte, ich hatte also nicht gewählt, sondern mitgenommen, was ging, wie ich das aus den Erzählungen meiner Mutter vom real existierenden Kommunismus kannte.
    Es waren noch neun Tage bis zur OP .

[zur Inhaltsübersicht]
    Drittes Kapitel
    Amerika
    • Wenn Menschen etwas falsch gemacht haben, werden sie grausam gefoltert und erhängt.
    • Alles gehört ein paar wenigen sehr Reichen, und alle anderen schuften für sie.
    • Wenn ein Reicher beschließt, dass er nicht mehr will, dass jemand für ihn arbeitet, muss dieser Arbeiter sofort gehen, und dann hat er kein Geld, um Essen für seine Kinder zu kaufen, und die Kinder sterben.
    • Manchmal werden die Kinder ihm dann auch weggenommen und ins Kinderheim gesteckt. In den Kinderheimen ist man aber nicht so nett zu ihnen wie in den sowjetischen.
    • Sie reiten auf Pferden durch …
    • Es gibt Roboter, die Wäsche waschen können (Mama).
    • Es gibt Geschäfte, da gibt es IMMER ALLES zu kaufen.
    • Neger werden gelyncht («Onkel Toms Hütte»).
    • Der Ku-Klux-Klan ist überall.
    • Es gibt so viel Pepsi, wie man will.
    • … Milch …
     
    Er wollte es gerne glauben, wirklich, aber was er sich nicht vorstellen konnte, fiel ihm umso schwerer, gutgläubig hinzunehmen. Wie sollte sie denn aussehen, so eine Maschine? Sie brauchte viel Platz, hatte Jurka gesagt. Wie viel war viel Platz? Mehr als ein Badezimmer? Und wenn sie nicht ins Badezimmer passte, wo stellte man sie dann hin? In den Flur ja wohl nicht, da würden die Nachbarn schimpfen. Wobei er sich nicht sicher war, ob die Menschen drüben auch in Kommunalkas
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher