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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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Schlaf. Ein tiefer Schlaf, wie ihn nur Kinder haben, dachte ich früher, Alte, Senile, Alzheimerkranke aber wohl auch, das hatte ich nun dazugelernt.
    Später wollte sie nichts mehr essen, vielleicht konnte sie auch nicht. Erst hörte sie auf zu kauen, ich kam auf die glorreiche Idee, ihr Babybrei zu geben, kaufte Bio-Baby-Gläschen für beide: Pasta Bambini (Spaghetti mit Tomaten und Mozzarella, püriert), Kartoffel-Gemüse mit Bio-Rind (püriert), Bio-Schinkennudeln mit Gemüse (püriert), alles ab dem achten Lebensmonat. Nach fleischhaltigen Gläschen stank der Windelinhalt schlimmer, und wenn ich Anna wickelte und dabei versuchte, nicht durch die Nase zu atmen, weil es entgegen Versprechungen anderer Eltern, beim eigenen Kind empfinde man das nicht so, doch ziemlich stank, fragte ich mich, ob die Pfleger wohl auch über die Folgen des Fleischessens nachdachten.
    Dann schien sie von einem Tag auf den anderen den Schluckreflex verlernt zu haben. Ich hoffte augenblicklich, sie habe aufgegeben, es sei ihre Art, sich zu verabschieden. Sie blieb weiter, man legte ihr eine Infusion, später verabreichten sie ihr tatsächlich Astronautennahrung, kleine Päckchen à vierzehn oder neunundfünfzig Gramm. Wenn ich sie besuchte, fuhr ich nun vorher bei meiner Mutter vorbei und holte Hühnersuppe ab, sie setzte neuerdings all ihre Hoffnungen auf Hühnersuppe, ich wärmte sie im Heim in der Mikrowelle auf, versuchte, sie ihr einzuflößen, mit Löffel, Schnabeltasse, Strohhalm, sogar einer Babyflasche mit Sauger, die Anna schon lang nicht mehr brauchte. Das meiste landete auf dem Lätzchen, ich weiß nicht, wovon sich ihr Körper ernährte, ob er aus der Astronautennahrung genug Kraft nahm, die Lungen atmen, das Herz schlagen zu lassen, aber sie blieb. Meine Großmutter blieb.

[zur Inhaltsübersicht]
    Zweites Kapitel
    Ich stand im vierten Stock vom Ludwig Beck und fühlte mich nicht besonders gut. Unten starrten Touristen auf das Rathaus und fotografierten es. Warum fotografierten die alle das Rathaus? Für mich symbolisierte das Rathaus München, und München symbolisierte Bleiben, zu fotografieren gab es da nichts. Die Spielfiguren im Turm drehten sich im Schneckentempo, im Münchentempo. Die Touristen auf dem Marienplatz, die nach oben starrten, als würde gleich Gott persönlich im Turm erscheinen oder zumindest Barack Obama, die Kameras in den Händen, die Finger auf dem Auslöser, versperrten mir immer den Weg und machten mich aggressiv. Ich wollte auch Tourist sein, irgendwo anders als in München. Am besten so weit wie möglich von München weg. Stattdessen stand ich im vierten Stock eines Kaufhauses, fälschlicherweise war ich bei den Jungen Designern gelandet, zumindest war ich offenbar nicht mehr jung genug, und schaute nun auf die Touristen herab. Ich war wütend, am meisten wahrscheinlich auf mich selbst.
    Die Person, die mir aus dem Spiegel der Umkleidekabine entgegenstarrte, kannte ich nicht und mochte ich nicht. Ein Bild, das Schriftsteller gerne verwendeten: jemand, der sein Spiegelbild nicht erkennt, den das eigene Spiegelbild erschreckt. Jedes Mal, wenn ich so etwas las, hatte ich hochnäsig geseufzt (als könnte ich besser schreiben): Man sieht sich doch jeden Tag im Spiegel, man weiß doch, wie man selbst aussieht, was soll denn dieses literarische Theater? Ein Vertuschungsversuch, dass man die Kunst nicht beherrscht, aus der Sicht des Ich-Erzählers zu schreiben und zugleich zu erzählen, dass sich das Ich verändert hat. Einen Spiegel-Satz hatte ich sogar als Beispiel auf meiner «Klischees, die ich nicht verwenden möchte»-Liste notiert. Nun war ich selbst ein Klischee. Die, die ich im Spiegel nicht kannte und nicht mochte, wahrscheinlich, weil ich in letzter Zeit den Ganzkörperblick in den Spiegel gemieden hatte, war nicht nur unförmig und dick, sondern auch irgendwie ein Niemand. Nicht, weil sie aussah, als hätte sie sich das Erstbeste übergezogen (hatte sie ja getan), es war die Art, wie sie blickte. Oder eben nicht blickte. Kein Charme und kein Schalk in ihren Augen, nichts, was mich begeistern oder interessieren konnte, nur Müdigkeit und Fassungslosigkeit angesichts des eigenen Anblicks. Sie sah aus wie eine Mutter, eine sehr übermüdete, mittelmäßig genervte und leicht überforderte Mutter. Sie sah so gar nicht aus wie ich.
    Ich hatte das Shoppen in den vergangenen Monaten erfolgreich gemieden. Ich hatte die Zeit nicht gefunden (so ein Kind vereinnahmt ja komplett), ich trug meistens
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