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Steilufer

Steilufer

Titel: Steilufer
Autoren: Ella Danz
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Der Fund
     
    Nachdem Dorothea Paschke im Alter von 40 Jahren die Hoffnung aufgegeben hatte, einmal eine eigene Familie zu gründen und ihr klar geworden war, dass sie die ihr verbleibenden Werktage bis zum Rentenalter im Vorzimmer von Dr. Hübner verbringen würde, den sie liebte und verehrte, für den sie aber immer nur die patente Dodo blieb, die man beauftragen konnte, seine Frau anzurufen, wenn es mal wieder später wurde – nachdem ihr dies klar geworden war, gab sie kurz entschlossen ihrem Leben einen neuen Sinn. Sie wollte einen Traum verwirklichen, der sie, wenn sie es recht bedachte, schon von Kindesbeinen an begleitet hatte. Mit preußischer Disziplin und eiserner Sparsamkeit, die ihre nichts ahnenden Mitmenschen gerne als krankhaften Geiz interpretierten, hatte sie begonnen, unbeirrt an der Verwirklichung ihres neu gesteckten Zieles zu arbeiten.
    Dorothea Paschke war das einzige Kind ihrer Eltern – der Vater Postbeamter, die Mutter Hausfrau – und aufgewachsen im unspektakulären Lichterfelde, wo der alte Berliner Westen besonders provinziell war. Das hatte sie nie gestört. Das Leben war hier ruhig und übersichtlich und auch als sie sich eine eigene Wohnung nahm, zog sie nur ein paar Straßen weiter. Die tägliche Portion großstädtischen Flairs bezog sie auf dem Hin- und Rückweg zur Arbeit, denn das Büro der Dr.-Hübner-Konzertagentur befand sich mitten in der City, im Europa-Center, mit Blick auf Gedächtniskirche und Kurfürstendamm. Doch auch darauf hätte sie gerne verzichten können. Die Geschäfte ringsum wurden immer teurer, sodass sie lieber Stullen ins Büro mitbrachte, statt sich ein belegtes Brötchen zu holen, mittlerweile Baguette genannt und dafür zum doppelten Preis. Auch die unangenehmen Kehrseiten von Wohlstand und Fortschritt nahmen unübersehbar zu: der Verkehr, der Lärm, der Müll, der einfach so auf den Straßen lag, die vielen Penner, die auf den Stufen vor der Kirche lungerten – mit den Jahren schätzte sie die ordentliche Beschaulichkeit ihres Wohnbezirks immer mehr.
    Seit die Familie Paschke es sich leisten konnte, verbrachte sie im Sommer drei Wochen an der Ostsee, in einer kleinen Pension nahe Timmendorfer Strand. Bei ihren Spaziergängen über die Promenade und durch den Ort mit seinen schicken Hotels und teuren Boutiquen genossen sie dann das Gefühl, in einem mondänen Badeort der großen Welt abgestiegen zu sein. Und als ihre Lebensplanung endlich klar vor ihr lag, beschloss Dorothea Paschke, dass sie ihren Ruhestand hier verbringen wollte. Sie erwarb ein Appartement in einer modernen Anlage mit allen Schikanen wie Pool, Garage und Portier, direkt an der Promenade, mit einer sonnigen Terrasse und herrlichem Blick aufs Meer. Sie aß im Büro ihre Stullen, ging kaum aus und besaß kein Auto, wohnte im Urlaub weiterhin in der kleinen Pension und vermietete ihre Traumwohnung an Feriengäste.
    Vor drei Jahren, sie war gerade 58 geworden, rief ihr verehrter Chef sie zu sich und bot ihr eine größere Summe, wenn sie vorzeitig aus dem Betrieb ausschiede. Sie rechnete kurz nach, schob die Kränkung, dass man sie einfach so zum alten Eisen warf, kurz entschlossen beiseite, forderte mehr Geld, ging in den Vorruhestand und wenig später konnte sie ihren Traum endlich leben. Sie bezog ihr Luxusappartement am Meer und jeden Morgen, wenn sie nach dem Aufstehen erst einmal auf ihre Terrasse hinaustrat, um den weiten Blick zu genießen, dankte sie ihrem Schicksal.
    Schnell hatte sich Dorothea Paschke in ihrem neuen Leben eingerichtet. Als sie berufstätig war, verlief ihr Alltag in einem festen Rhythmus: Montag bis Freitag arbeiten, Montag, Mittwoch und Freitag einkaufen, am Wochenende Hausputz, Gesichtsmaske, Maniküre, Elternbesuch, Spaziergang oder ein Kulturereignis, das wenig bis gar nichts kostete. Und auch jetzt hatte jeder Tag seine Aufgaben: kochen, putzen, bügeln, Sonderangebote studieren, einkaufen, Gymnastik, spazierengehen, Schönheitspflege – das und vieles mehr wollte erledigt werden. Die Belohnung für ihre strenge Zeiteinteilung war eine Wohnung, die blinkte und blitzte und in der sie jederzeit Besuch empfangen konnte und ihre gepflegte Erscheinung, der man weder die Vorzimmerdame, noch ihr Alter ansah. Allerdings bekam sie nie Besuch. Ihre Eltern waren inzwischen gestorben, weitere Verwandte hatte sie nicht und bisher hatte sie weder Nachbarn noch Herren, die sie beim Kurkonzert kennengelernt hatte, für wert befunden, ihre heiligen Hallen zu betreten. Nie
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