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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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machte. Wenn ich mich morgens verschlafen aufsetzte, kam sie einen Moment später herein, als hätte sie ununterbrochen durch das Schlüsselloch gespäht und gewartet, eine duftende Tasse Kakao in der Hand. Kein Pulverkakao selbstverständlich, meine Großmutter bereitete ihn aus Schokolade zu. «Frühstück ans Bett?» Ich bedankte mich nie, in den ersten Jahren, weil wir ja Prinzessin spielten, später, weil ich es vergaß. Trotz Reue setzte ich die Erinnerung auf die Liste.
    Meine Großmutter, in Paris, vor dem Eiffelturm. «Das ist er, der Eiffelturm. In Paris.» Die Träne in ihrem Auge (vielleicht war es nur der kalte Wind) wischt sie mit einem ihrer karierten, dunkelblauen Stofftaschentücher schnell weg und starrt wieder hinauf. Mit dem Aufzug hinauffahren will sie nicht, nein, sie warte gerne hier auf uns. Ich muss auch nicht nach oben, ich war da schon, ich schaue lieber Großmutter zu, wie sie in den dunklen Himmel blickt, vor dem der Eiffelturm erstrahlt. Sie schüttelt noch einmal den Kopf: «In Paris!» Meine Mutter fährt alleine hoch.
    Der Apfelkuchengeruch. Großmutter am Backofen, einen Mixer in der Hand, am Tisch mit ihrer großen Teetasse vor sich (sie konnten ihr groß genug nicht sein, aus den USA brachte ich ihr ihre Lieblingstasse mit, 0 , 75  Liter), im Wohnzimmer vor dem Fernseher, «Dallas» schauend, in ihrem braunen Sessel mit einem Buch, mit einer russischsprachigen Zeitung, die Frank für sie auftrieb, bei ihrer «Mittagsruhe» auf der Couch liegend, die Augen geschlossen, aber nicht schlafend, mit der Gießkanne auf ihrem Balkon. Konstant: der Apfelkuchengeruch. Selbst an Tagen, an denen sie Schokoladen- oder Himbeerkuchen backte.
    Meine Mutter kam mit roten Augen aus der Kantine zurück. Sie setzte sich neben Frank, sprach leise zu ihm, mich streifte sie keines Blickes. Frank hörte konzentriert zu und nickte. Ich blickte auf die Uhr. Zwei Stunden erst. Die nette Schwester mit den roten Haaren hatte uns ein Update «in zwei, drei Stunden» versprochen.
    Flox und seine Mutter kamen vom Beten, sie lächelte mich an, er nicht. Sie hatten wohl beim Beten auch auf die Zeit geschaut.
    «Wart ihr in der Kapelle?», fragte ich und schaffte es, kaum spöttisch zu klingen.
    «Ja.» Flox setzte sich neben seine Schwester. Ich musste an die einsamen Mütter in der Kur denken.
    Ich starrte zu Flox, suchte seinen Blick, er sprach mit seiner Schwester. Als er mich endlich anschaute, grinste er. «Du Drama-Queen, was ist denn jetzt schon wieder?», hätte er vielleicht gesagt, wenn wir allein gewesen wären. Vielleicht wünschte ich mir das aber auch nur.
    Wir konnten entweder zur Tür schauen, aus der die rothaarige Schwester hoffentlich bald und hoffentlich lächelnd erscheinen würde, oder zur Uhr an der Wand. Zehn Uhr dreiundfünfzig, meine Großmutter war seit vier Stunden und einundzwanzig Minuten tot.
    Die Schwester streckte ihren Kopf mehr durch den Spalt, als dass sie herauskam.
    «Ich muss gleich wieder zurück, aber so weit ist alles gut. Die Ärzte sind mit dem Verlauf sehr zufrieden. Eine wahre Kämpferin, Ihre Kleine!» Sie lächelte und verschwand wie ein Kasperle hinter einem Vorhang. Flox’ Vater klatschte, was niemand aufnahm, seine Frau streichelte ihm über den Arm. Wir blieben einfach sitzen.
    «Ein Drittel geschafft», sagte ich, auch da reagierte niemand.
    Ich notierte «Ich muss gleich wieder zurück, aber so weit ist alles gut. Die Ärzte sind mit dem Verlauf sehr zufrieden. Eine wahre Kämpferin, Ihre Kleine!» in die Liste der Sätze, die man gerne von einem Arzt hört, auch wenn es eine Schwester war.
    Ich packte die Listenbücher und Notizblöcke zusammen und ging zu Katha hinüber. Sie lächelte mich an.
    «Na?» Was sollte sie sonst auch sagen? «Läuft gut bis jetzt», sie griff unbeholfen nach meiner Hand.
    «Kann ich kurz deinen Computer leihen?» Sie sah mich erstaunt an, nickte, kramte hektisch in ihrer Tasche, als käme es auf Schnelligkeit an, als könne sie etwas für mich oder für Anna tun, indem sie sich beeilte.
    «Was hast du vor?» Meine Mutter fragte das, was Katharina sich nicht zu fragen traute, wieso hatten sie alle so eine Angst? «Tippst du deine Listen ab?» Sie klang, wie ich manchmal klang, wenn ich Anna abzulenken versuchte, weil sie weinte, interessiert und beschwichtigend zugleich: «Sag mal, Anna, hat der Bär eigentlich die Zähne schon geputzt? Nicht, dass er es mal wieder vergisst und dann Zahnweh kriegt.»
    Flox antwortete für mich.
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