Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
Vom Netzwerk:
erst wahrnahm – die guten Tage waren die, an denen er mit einem skeptischen Blick zu ihr blickte, «Wer ist denn die da, bitte?» –, all das zu bemerken wäre vielleicht zu viel des Guten gewesen, einen Bonus für Gefühle gab es nicht. Warum beschäftigte mich, was die Pflegerinnen und der Pfleger über mich dachten? Ich sah zu, dass ich kurz vor dem Essen kam, wenn sie alle am Tisch warteten, ich fütterte sie, während ich mich fragte, wann sie denn endlich stirbt. Ich hätte ihr etwas kochen, liebevoll zubereitetes Essen für sie mitbringen sollen, anstatt ihr Löffel für Löffel den Fraß in den Mund zu schieben, den ich selbst nie angerührt hätte, auch wenn ich bei jedem Löffel murmelte: «Es schmeckt doch gut!» Ich hätte für sie kochen sollen, so wie sie früher für mich gekocht hat, meine Lieblingsgerichte oder Dinge, die sie für gesund hielt. Hühnersuppe zum Beispiel, immer auch Fleisch. In meiner vegetarischen Phase, die damit begann, dass ich ein Buch von Jane Goodall gelesen und beschlossen hatte, mein Leben dem Wohl der Tiere zu widmen, anstatt sie zu essen, redete sie nicht mit mir. Sie redete so lange nicht mit mir, bis ich wieder Fleisch aß und sie wieder ruhig schlafen konnte, weil das arme, heranwachsende Kind wieder sein Zink, Selen und B-Vitamine bekam. Meine vegetarische Phase endete, als ich Jane Goodall vergessen hatte und das Interesse an Mark aus der Parallelklasse das für die Tiere ablöste. Am ersten Tag, an dem ich wieder Fleisch aß, fragte sie mich das erste Mal wieder nach der Schule, wie immer insbesondere nach Mathematik, weil sie Zahlen liebte und die Hoffnung nicht aufgeben mochte, dass ich diese Liebe mit ihr teilen könnte: Was nahmen wir gerade durch, hatte es Tests gegeben, wie hatte ich abgeschnitten, wie die anderen, war ich besser als der Durchschnitt, mochte ich den Stoff, Dreisätze waren doch spannend, und dazu setzte sie mir ihre Fleischbällchen vor, sieben schöne, runde Fleischbällchen, die nach Petersilie und Knoblauch dufteten, sowie mein geliebtes Kartoffelpüree. Das bereitete sie frisch mit viel Milch und noch mehr Butter zu, Püreepulver verachtete sie, wie andere Kinderschänder verachten, daran musste ich denken, während ich ihr im Heim das Fertigzeug in den Mund schob, die Hälfte quoll wieder heraus, ich drückte es wieder hinein, schnitt die zähe, in der Mikrowelle aufgetaute und überhitzte Frikadelle in Stückchen, pustete auf die zähe, klebrige Masse, die nur entfernt an Kartoffelpüree erinnerte, ich wünschte ihr den Tod.
    Ich konnte das so natürlich niemandem sagen. Aber ich sprach es manchmal vor dem Spiegel laut aus, für mich. Meistens, wenn ich aus dem Heim zurückkam und mir die Hände wusch, länger als sonst. Und während ich mir die Hände abtrocknete, gründlich und geduldig wie sonst nur im Krankenhaus beim Desinfizieren, blickte ich in den Spiegel und sagte so laut, dass zwar ich es, aber nicht Anna und Flox außerhalb des Badezimmers hören konnten: «Ich wünsche ihr den Tod.» Anschließend nahm ich meist meine Listen zur Hand und bearbeitete sie so lange, bis ich ihr verschrumpeltes Gesicht nicht mehr sah und mich meinem Alltag widmen konnte.
    Achtundneunzig Jahre waren eine lange Zeit, sagte ich mir und verdrängte die Augenblicke, in denen ich sie lächeln sah, weil sie ja auch immer seltener wurden, ihr leicht strenges wie unwilliges Lächeln. Sie belächelte mich, immer seltener, aber manchmal doch, und das gab mir ein gutes Gefühl. Großmutter hatte schon immer eine nette, liebevolle Art, mich zu belächeln, als würde sie sagen: «Ach du …» Seit zwei Jahren aber schon lächelte sie meistens nur in meinem Kopf – in der Heimrealität starrte sie an mir vorbei mit leerem, glasigem Blick. Ihre strahlenden blauen Augen waren inzwischen grau geworden, oder farblos, je nach Licht. Ich hatte nicht gewusst, dass sich die Augenfarbe im Alter noch einmal verändert. Ich hatte gehört, dass Nase und Ohren im Alter weiter wachsen würden, die einzigen Körperteile, die immer wachsen. Und es stimmte, ich sah es bei jedem Besuch: Während sie insgesamt schrumpfte, schienen ihre Ohren und die Nase tatsächlich immer größer zu werden, dazu die glasigen Augen, ekelig sah sie aus, diese Kombination aus eingefallenen, blassen Wangen und überdimensionierter Nase. (Auch das konnte ich nicht laut sagen, noch nicht einmal mir selbst.) Beim Kommen und Gehen tat ich so, als ob ich sie küssen würde. Ich mochte nicht, wie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher