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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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stillgestellt hatten. Gelegentlich brüllte Ralf mit seiner unmenschlich schmerzverzerrten Stimme, obwohl er laut den Pflegern – woher wussten sie das? – keine Schmerzen hatte, zumindest keine körperlichen: «Wie lange noch?» Oder: «Ich kann nicht mehr!» Das Gebrüll störte niemanden, sie zuckten noch nicht einmal zusammen, dass niemand antwortete, störte Ralf wiederum nicht. Die Idee an sich war genial, eine Bushaltestelle im Hof des Altenheimes, an der Alzheimerkranke den lieben langen Tag auf einen Bus warten konnten, auch bei Regen, sie war überdacht. Das Warten auf den Bus beruhigte sie, weil es ihnen die Unruhe nahm, nicht zu wissen, wohin, warum, wer, wie und was. Sie warteten auf den Bus, der sie zur Arbeit, nach Hause, zum Ehepartner, zum Supermarkt, zu den Kindern bringen würde. Da der Bus niemals kam, kamen sich auch die Fahrtziele in den Köpfen der Alten nicht in die Quere. Der Hof war umzäunt, das Tor abgesperrt, damit sie nicht entwischen konnten, das wussten sie alle nicht oder hatten es vergessen, ich aber wusste es. Weshalb ich immer versuchte, lieber später zu kommen, wenn sie aufs Essen warteten, das fand ich erträglicher, dasselbe Szenario, aber am Tisch. Frau Neitz fragte dann: «Wann kommt denn das Essen?» Herr Peitle und der Türke blickten auf ihre Armbanduhren, Lieschen/Lottchen schüttelte den Kopf, die anderen stierten vor sich hin, Ralf brüllte: «Wie lange noch?» Hatte der nette Pfleger Dienst, der einzige Mann, murmelte er: «Gleich, Ralf, gleich», und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter, die Asiatin streichelte ihm sogar über die wenigen, stets fettigen grauen Haare. Jutta, die Stationsleiterin, konnte nicht darauf eingehen, weil sie mit ihrem rosafarbenen Handy telefonierte, wie sie es eigentlich ihre gesamten Schichten über tat, telefonierte, während sie mit der freien Hand Essen auf Teller verteilte, diese zum Tisch trug, ihren Schützlingen Lätzchen um den Hals band, was mich an Anna erinnerte, die Teller nach dem Essen ab- und die Spülmaschine einräumte. Sie telefonierte weiter, während sie denjenigen, die Hilfe beim Aufstehen brauchten, nacheinander ihren handyfreien Arm anbot, mit dem sie dann auch die Rollstühle nacheinander wieder zur Bushaltestelle schob. Sie sagte bei diesen endlosen Telefonaten nie viel. Manchmal hörte ich ein «Ja» oder «Das verstehe ich» und manchmal etwas lauter «Nee, oder?» oder «Ach geh!», und das waren immerhin mehr Worte, als sie für diejenigen übrighatte, um die sie sich gemäß ihrer Jobbeschreibung kümmern sollte. Die beschwerten sich aber auch nicht, sie hatten auch niemanden, der sich für sie hätte beschweren können, bis auf Frau Müller-Deutz sah ich kaum Besuch. Frau Müller-Deutz kam täglich, immer gegen elf Uhr, nachdem sie eingekauft hatte, Aufschnitt und Käse fürs Abendbrot, Milch fürs Morgenmüsli, zu Mittag aß sie immer im Heim. Herr Müller-Deutz hatte selbstverständlich keine Ahnung, wer die Frau war, die ihm jeden Tag die Hand zur Begrüßung gab. (Die Hand gab, weil die Beziehung in einer Zeit, in der Herr Müller-Deutz sich noch an seine Frau erinnerte, schon abgekühlt war? Die Hand gab, weil sie zu einer Generation gehörte, in der man den eigenen Mann nicht in Anwesenheit anderer küsste? Die Hand gab, weil der Handschlag für diese beiden etwas Intimes war, eine private Geste, über die sie früher immer gelacht hatten?) Frau Müller-Deutz machte die Tatsache, dass ihr Mann sie vollends ignorierte, nichts mehr aus, rührend kümmerte sie sich nicht nur um ihn, sondern auch um andere, half ihnen beim Essen, fütterte sie, wenn nötig, wischte zärtlich und vorsichtig ihre Münder ab. Sie wusste, dass die große, starrende Frau, deren Namen ich nicht kannte, weil niemand sie ansprach, zu wenig trank, weshalb sie ihr immer Wasser einzuflößen versuchte, Wasser aus einer Babyschnabeltasse von NUK , eine Marke, die ich dank meinen Besuchen hier schon vor Annas Geburt kannte. Auch Frau Müller-Deutz schwieg, während sie sich kümmerte, wenn wir uns begegneten, nickte sie mir nur zu. Wir begegneten uns selten, weil ich selten kam.
    Ich besuchte sie nicht oft, und dann nicht lange. Wenn ich es tat, schaute ich immer auf die Uhr, hoffte, den Pflegern würde nicht auffallen, wie kurz ich blieb. Es war ihnen ziemlich sicher egal, weil alles andere, nämlich zum Beispiel zu bemerken, wie kurz ich blieb, dass Herr Müller-Deutz seine Frau nicht nur nicht erkannte, sondern gar nicht
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