Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
Vom Netzwerk:
sowieso Schlabberklamotten, sogar die von Flox, weil sie noch größer waren, ich wartete darauf, dass meine Figur zurückkommen würde, freiwillig. Ich war geduldig. Ich aß gern, während ich wartete, obwohl ich nicht schwanger war und nicht stillte, wahrscheinlich aß ich aus Langeweile, Frust und Gewohnheit und dachte, irgendwann käme meine alte Figur oder die von Marilyn Monroe zurück bzw. vorbei, sie würde sagen: «Hi, schön, dich zu sehen!», und ich würde meine alten Klamotten hervorholen, von den obersten Schrankregalen, unterm Bett, aus der alten Kommode und aus dem Keller (während in meinem Schrank nur zwei zu große Kapuzenpullis und eine Bluse, die mehr Sack war denn Bluse, einsam und verloren hingen). Ich würde meiner alten bzw. neuen Figur meine alte Jeans in Größe achtundzwanzig anziehen und sie ein bisschen spazieren führen, alleine, ohne Kinderwagen, ich würde die Blicke der Männer und der Frauen suchen, ohne Hintergedanken, einfach so, ich würde mich gut fühlen oder einfach nur wie ich.
    In meiner Vorstellung würde ich an jenem Tag nach diesem Spaziergang auch anfangen zu schreiben, richtig zu schreiben. Ich würde den Schreibtisch leer räumen, all die Notizen und Recherchen für Kolumnen und Essays, an denen ich seit zwei Jahren laborierte, um meinem schlechten Gewissen sagen zu können: Aber ich schreibe doch, ich schreibe doch etwas. Nicht am Roman, nicht am alten, nicht am neuen, aber wirklich, ich schreibe! Und ich hielt meinem Gewissen die vielen bunten Notizzettel und ausgedruckten Blätter als materiellen Beweis hin. Ich würde, wenn ich von jenem Spaziergang, an dem ich Blicke gesucht und Lächeln geerntet hatte, Kekse auf den Tisch bereitlegen und eine Flasche Bier aufmachen, obwohl Kekse nicht zum Bier passten, so wie früher. Ich würde mich erst am späten Abend hinsetzen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob ich in der Nacht aufstehen müsse, um mich um ein Kind zu kümmern, oder an den nächsten Morgen, ich würde gar nicht nachdenken, sondern einfach die Vorstellung genießen, dass gute Sätze und Romanfiguren mich erst aufsuchten, wenn sie sich sicher seien, dass sie keiner sah, weil alle schon schliefen (außer mir, versteht sich). Ich würde mein Bier trinken, an meinen Spaziergang denken und dann die Sätze und Figuren freudig begrüßen und anfangen zu schreiben und zwischendurch einen Keks essen oder ein weiteres Bier holen, aber vor allem würde ich schreiben. Warum diese Vorstellung in mir mit Abnehmen einherging, was Schreiben mit Kilos zu tun hatte, wusste ich nicht, vielleicht hätte es mir ein Psychologe erklären können, aber die einzigen Psychologen, mit denen ich je gesprochen hatte, waren der aus meiner Kindheit, zu dem mich meine Mutter wegen der Listen schleppte, sowie der Krankenhauspsychologe, der nicht über das Schreiben sprach, sondern von möglichem Kindstod.
    Jedenfalls schrieb ich außer in dieser Vorstellung nicht, und meine alte Figur schien meine Adresse vergessen zu haben. Wahrscheinlich hatte das eine wenig mit dem anderen zu tun, auf jeden Fall aber war ich gezwungen gewesen, mich auf die Suche nach einer Jeans in Größe dreiunddreißig zu machen, weil meine letzte in zweiunddreißig gestern gerissen war. An der Innennaht zwischen den Beinen, wegen zu dicker Oberschenkel, die gut zum schwabbeligen Bauch passten. Es war in der Kita passiert, auf der Rutsche mit Anna, es war niemandem aufgefallen und auch egal, weil die Menschen dort sich nur für Kinder interessierten und nicht für meine Jeans. Flox, dem ich es abends erzählt hatte, hatte gemeint, ich solle vielleicht einfach noch mal die Schwangerschaftsjeans anziehen, die waren doch so praktisch mit ihrem Gummibund. Dass er meinen Körper aufgegeben zu haben schien, ließ mich in Tränen ausbrechen, Tränen und Schluchzen, ich konnte neuerdings heulen wie Anna: ohne Vorwarnung, von null auf hundert, sofort.
    Flox blickte erstaunt und fragte, was los sei, ich weinte doch nicht wirklich wegen einer Jeans, und ich schluchzte: «Doch», weil ich ihn und mich nicht daran erinnern wollte, dass ich immer noch nicht schrieb. Oder weil ich nicht über die anderen Kinder reden wollte, die beim Laufen und Klettern nicht so schnauften wie meins, weshalb ich manchmal einen Hass auf sie bekam, auch auf die anderen Eltern, heute war wieder so ein Tag gewesen. Ich weinte, Anna guckte erschrocken, Flox nahm sie auf den Arm.
    «Doch, doch, doch!» Hin und wieder flossen die Verzweiflung,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher