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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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siebenundvierzig dicke Beulen, eine Schramme auf der Stirn quer über der rechten Augenbraue, eine zehn Zentimeter lange am linken Schienbein, ein zickzackiges Brandmal auf der rechten Hand – und das alles schon vor dem ersten Schultag.
    Als am 5 . März 1953 Stalin starb, war Grischa sieben Jahre alt, er ging in die erste Klasse. Moskau stand unter Schock, das Land stand unter Schock, wie sollte es weitergehen. Bis zur Beisetzung des großen Mannes vier Tage später fiel die Schule aus, Grischa empfand diesen Tod also als freudiges Ereignis. Am Tag nach der Beisetzung sollten die sowjetischen Schüler auf die Schulbank zurückkehren, vorher aber sollten sie noch einmal traurig sein. Dazu wurden sie in schnurgerade Reihen mit durchgedrückten Rücken aufgestellt. Die bravsten durften unter dem obligatorischen Stalin-Porträt im Klassenzimmer trauern, der weniger privilegierte Rest stand gegenüber und blickte dem großen Führer der Sowjetunion trauernd ins Gesicht. Es versteht sich von selbst, dass Onkel Grischa nicht zu den Auserwählten gehörte, brav war er noch nie gewesen. Dafür schnitt er umso besser Grimassen. Der 10 . März schien ihm der ideale Tag zu sein, um einige seiner geduldig vor dem Spiegel einstudierten Grimassen und Pantomimesketche einem Publikumstest zu unterziehen. Wie oft hatte ein siebenjähriger Junge schon die Chance, seine Talente einem weiblichen Publikum mit ordentlichen Zöpfen und großen Haarschleifen vorzuführen? Die Mädchen trauerten ganz besonders, die Tränen strömten ihnen übers Gesicht, sie zogen den Rotz hoch, blickten schluchzend auf ihre Schuhe. Die beiden vorbildlichen Jungen, denen die Ehre zuteilgeworden war, ebenfalls unter dem Porträt zu trauern, bemühten sich angestrengt, sich würdig zu erweisen.
    Vor ihren Augen spielte Onkel Grischa bis zu sechs Rollen gleichzeitig, unter anderem einen Clown, einen gebrechlichen, vor sich hin schimpfenden Mann sowie Stalin selbst. Zuerst bissen sich die beiden männlichen, im Grunde ihres Herzens unpolitischen und keineswegs wirklich traurigen Ehrenträger auf die Innenwangen, um nicht loszuprusten. Dann das Onkel Grischa direkt gegenüberstehende Mädchen, Katja mit den blonden Zöpfen, die von Onkel Grischa und seinen Verrücktheiten schon seit der ersten Klasse entzückt war, obwohl er nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Ihre Freundinnen – hätten sie von dieser Liebe gewusst – hätten sie mit Sicherheit verurteilt: der Narr! Als Katjas schwindende Trauer offenkundig wurde, warfen ihr die anderen Mädchen böse, strafende Blicke zu, die denen der Lehrerin in nichts nachgestanden hätten, wäre diese nicht zu sehr mit ihrer sentimentalen Versenkung in Stalins Antlitz beschäftigt gewesen, als dass sie Onkel Grischas Theaterkünste bemerkt hätte. Onkel Grischa ließ derweil den Clown die Zunge herausstrecken und Stalin einer Frau hinterherschauen, deren Hüftwackeln jeden Anstand überschritt. Bald hatte er alle erobert, als Letzte brach Natascha ein, die Klassenbeste, die ihre Hausaufgaben immer erst zweimal auf Schmierpapier schrieb, bevor sie eine Reinschrift ins Heft wagte. Auch beim Trauern, hatte sie sich am Morgen vorgenommen, würde sie glänzen. Es misslang.
    Am 9 . März 1953 trauerte die ganze Sowjetunion um Stalin, etliche Menschen starben in dem Gedränge auf dem Roten Platz, wo sie ihm die letzte Ehre erwiesen. Bis zu diesem Tag hatte sich Großmutter über Onkel Grischa mehrmals täglich geärgert, noch nie jedoch hatte sie sich für ihn geschämt. «Ich habe keine Worte», sagte sie an jenem Abend, als sie vom bislang peinlichsten Gespräch mit einer Autoritätsperson über Onkel Grischas Benehmen zurückkam. Dieser Satz war schon häufiger gefallen, auch ihr ratloses Kopfschütteln kannten alle im Hause, aber als weder Geschrei noch Drohungen, noch Strafen folgten, nur scheinbar endlose Tränen, in denen sich die Trauer über den Tod des großen Mannes mit der endgültigen Enttäuschung über den herzlosen, ja eigentlich schon verlorenen Sohn vermischten, war sogar Onkel Grischa kurz erschrocken (sein Schrecken, wohlgemerkt, war nicht mit Reue zu verwechseln).
    Als am 3 . November 1957 die Hündin Laika als erstes Lebewesen in den Weltraum geschickt wurde, befand Onkel Grischa: Das ruhmreiche Los, die erste Katze im Weltall zu sein, sollte der Familienkatze Maschka zufallen. Nach offiziellen Angaben flog Laika ein paar Tage unbeschädigt um die Erde herum – in Wirklichkeit waren es nur
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