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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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aber nicht seinen Sinn für Autorität, Ordnung und Unterordnung, das begriff er jedoch schnell, gründlich und schmerzlich. Sie wussten, dass Konsequenzen folgen würden, wenn nicht sofort, dann bald, spätestens beim nächsten Mal. Denn ein nächstes Mal würde es geben.
    Großmutter bangte und weinte und bettelte, Grischa möge sich mit «dieser Räuberbande» nicht mehr abgeben, sein Bruder pflichtete ihr bei, sein Bruder Andrej, der wenig redete und für den Onkel Grischa mehr Respekt hegte als für den Vater, welcher seine Meinung in Ohrfeigen äußerte. Seine Schwester bewunderte ihn wie immer schon und tat erst einmal alles, um auch an den geheimen Kreis heranzukommen. «Na, gut, dass du da selbst schon mitmachst», sagte der Vater, «ich will nicht mal wissen, was du mit diesen Leuten treibst, aber halte Anastasia zumindest raus!», aber da war es schon zu spät.
    Einer seiner Freunde hieß Sascha, er war in Grischas Alter, ein schüchterner, intelligenter junger Mann mit Brille, auf dessen Meinung Onkel Grischa viel Wert legte. Als Einziger in der Gruppe trank er kaum, er teilte ihre Ideale, aber nicht die offenbar damit einhergehende Unvernunft. Er war der größte Realist unter ihnen, besonnen, das Gegenteil von Onkel Grischa. Für Onkel Grischas Schwester war er perfekt: Jemand, den ihr geliebter großer Bruder bewunderte, der ihr aber zugleich keine Angst machte. Denn Onkel Grischa machte, auch wenn es keiner zugab, allen in der Familie Angst. Großmutter hatte Angst nicht vor, sondern um ihn. Seinem Vater machte die Machtlosigkeit Angst, in die sein Sohn ihn schon seit seiner frühesten Kindheit versetzt hatte, dieser Sohn, der selbst gar keine Angst zu haben schien, auch vor Schlägen nicht. Sein Bruder hatte um sich selbst Angst, die kleine Schwester hatte schon immer die Angst gehegt, Onkel Grischa nicht zu gefallen, nicht gut genug für ihn zu sein. Sascha hingegen machte ihr keine Angst, und es kam, wie es kommen musste: Sascha und Onkel Grischas Schwester wurden ein Paar. Onkel Grischa war amüsiert, die Eltern froh, der große Bruder nahm es kaum zur Kenntnis. Er hatte inzwischen selbst ein Kind, um das sich besser zu kümmern er sich schwor – besser, als er sich um seinen Bruder hatte kümmern können. Onkel Grischa war Trauzeuge und Tamada, der Hochzeitszeremonienmeister. Auch dabei machte er natürlich Blödsinn, und diesmal war das erwünscht. Großmutter blickte glücklich, eine stolze Brautmutter, auf ihre Tochter und sah zwischendrin besorgt zu ihrem mittleren Sohn.
    «Man gewöhnt sich an alles, auch an die Angst», hatte Großmutter einmal gesagt. Langsam, aber stetig hatte Onkel Grischa alle an die Angst gewöhnt.

[zur Inhaltsübersicht]
    Erstes Kapitel
    Schon seit einer Weile wartete ich auf ihren Tod. Ich sehnte mich nicht danach, vielmehr wartete ich gespannt, ungeduldig und ein wenig ängstlich. Ich fürchtete, nach ihrem Tod könnte ich dieses Warten bereuen, mich dafür schämen. Sie aber starb nicht. Sie blieb, «lebte» konnte ich schon lange nicht mehr sagen. Sie wartete wohl auch, manchmal vielleicht ebenfalls auf den Tod, oft aber nur auf den Bus. Sie wartete an der Bushaltestelle mit all den anderen Alten, und wenn es nicht der Bus war, auf den sie warteten, dann war es das Frühstück, das Mittagessen, Kaffee und Kuchen, Bienenstich oder Käse-Kirsch, beides aufgetaut aus der Packung, dann aufs Abendbrot, und dazwischen immer wieder auf den Bus. Als Gruppe eilten sie nach dem Frühstück zur Haltestelle, wer nicht mehr gehen konnte, wurde im Rollstuhl geschoben, und dort standen und saßen sie dann. Frau Neitz, die noch vollständige, in sich stimmige, wenn auch manchmal rätselhafte Sätze bilden konnte – sie wollte zum Beispiel immer wieder von mir wissen, wann die Landung des Papageis zu erwarten sei –, fragte regelmäßig in die Runde: «Wann kommt denn der Bus?» Daraufhin blickten Herr Peitle sowie der türkische Mann, dessen Namen ich mir nicht merken konnte und der angeblich gar kein Deutsch verstand, auf ihre Armbanduhren, sie konnten die Uhren nicht lesen und trugen sie dennoch, aus Gewohnheit. Sie schauten aufs Zifferblatt, als würden sie die Zeiger genau studieren, antworteten jedoch nicht. Dafür nickte Lieschen/Lottchen mit dem Kopf. Sie nannte sich mal Lieschen, mal Lottchen, wahrscheinlich hieß sie weder so noch so. Die anderen starrten ins Nichts und waren still, teils, weil sie gar nicht richtig hier waren, teils, weil die Medikamente sie
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