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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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damit. «Wenn ich mal berühmt bin, könnt ihr das teuer verkaufen!», sagte Onkel Grischa, und sie schworen, die Bilder niemals aus der Hand geben zu wollen; er rechnete ihnen vor, wie viel Eiscreme und Spielzeug man dafür kaufen konnte, kurz, die Unterhaltungen mit Onkel Grischa waren so viel besser als mit jedem anderen Erwachsenen der Welt. Er zeichnete politische Karikaturen, die er seinen Freunden zeigte und nur selten in der Familie verschenkte, Großmutter schüttelte darüber den Kopf, ihr machten sie Angst. Karikaturen waren Onkel Grischas größtes Talent, vielleicht hätte er damit Geld verdienen können, aber ihr Inhalt war das Gegenteil dessen, was die Prawda auf ihrer Karikaturenseite abdruckte.
    Politisch war Onkel Grischa schon immer gewesen. In der dritten Klasse wollte er gemäß den kommunistischen Prinzipien, mit denen er Tag für Tag gefüttert wurde, Gleichheit in der Klasse einführen und die Lehrerin duzen. Er hatte dafür einiges auf den Deckel bekommen, von der Lehrerin, von der Schuldirektorin, von Großmutter, sogar von seinem großen Bruder, der bereits Pionier war und seinen Pionierschwur im Schlaf aufsagen konnte. Onkel Grischa machte es sich zur Pflicht, die Lehrerin in Zukunft nicht mehr direkt anzusprechen.
    Viel später, kurz vor seinem schon fast unverhofften Schulabschluss, hatte Onkel Grischa etwas sonderbare, aber ihm ebenbürtige Freunde gefunden, die sein Vater als «verdächtige Kerle» bezeichnete. Sie machten Quatsch, schwänzten die Schule, lasen verbotene, kopierte Bücher, hörten rauchend («Das hatte gerade noch gefehlt! Bist du jetzt völlig verrückt?», rief Großmutter und schüttelte wieder den Kopf, es war fast schon ein Tick, wenn sie Onkel Grischa in jener Zeit sah; er ging jetzt auch nicht mehr zum Friseur) verbotene Musik, sie schrieben grottenschlechte Gedichte und lasen sie einander vor, und damals begann Onkel Grischa, seine Karikaturen zu zeichnen. Das war Blödsinn, aber wirklich besorgniserregend war etwas anderes. Die Jungs hatten Kontakte zu einer antisowjetisch eingestellten Gruppierung, der sie grenzenlose Bewunderung entgegenbrachten. Richtig dazu gehörten sie noch nicht, sie waren zu jung, dafür jedoch leicht formbar: Begeistert führten sie Botengänge aus, vervielfältigten Bücher, Reden und Pamphlete.
    Keiner in der Familie wusste richtig Bescheid, und deshalb sprach man es auch nicht laut aus. Aber nach einigen Jahren befürchteten sie, Onkel Grischa sei inzwischen einer der Anführer dieser Bande. Man schob das alles gern auf den schlechten Umgang – aber hätte es nicht Onkel Grischas ganzem Wesen zutiefst widersprochen, nicht selbst Anführer zu sein? Sie hörten viel, und manchmal hörten sie lieber nicht hin. Großmutter klagte, sie würde nie jemandem unbefangen begegnen, nicht den Nachbarn, nicht dem Hauswart, keinem Lehrer der Kinder, noch nicht einmal der Verkäuferin aus dem Supermarkt nebenan. Jeder hielte eine neue Geschichte oder ein Gerücht über ihren jüngeren Sohn bereit. Vom Älteren wussten sie oft noch nicht einmal den Namen.
    Die Familie hörte zum Beispiel – da war Onkel Grischa im zweiten Studienjahr und im dritten Studienfach, weil er die beiden ersten doch nicht gemocht hatte –, dass Onkel Grischa und seine neuen Freunde in die Universitätsbibliothek eingebrochen waren. Abteilung Biologie. In jedes einzelne Biologielehrbuch, es waren mehrere hundert, hatten sie auf die erste Seite die wichtigsten genetischen Gesetze notiert und darunter die Namen von Biologen, die zu diesen Gesetzen geforscht hatten. Dieselben Namen fanden sich auch in den Registern diverser Straflager in den Weiten der sowjetischen Heimat wieder. Stalins Hausbiologe Trofim Denissowitsch Lyssenko hatte befunden, dass sich nur erworbene, dem Sozialismus dienende Eigenschaften vererben lassen sollten, Genetik passte ihm nicht ins Konzept. Wer dem widersprach, der ließ sich mit Hilfe des NKWD , des Innenministeriums, entfernen, und wer widersprochen hatte, so hörte nun Onkel Grischas Familie, war in jedem einzelnen Biologielehrbuch in der Universitätsbibliothek der Staatlichen Lomonossow-Universität auf der ersten Seite aufgelistet. Großmutter kannte sich weder mit Biologie noch mit Genetik aus, auch Onkel Grischas Vater hatte nur eine vage Vorstellung, worum es bei dieser hirnrissigen Aktion, wie er sie nannte, inhaltlich ging. Dass er seinem mittleren Kind zwar die gelockten Haare, die braunen Augen und die kurzen Beine vererbt hatte,
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