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Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Titel: Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
Autoren: Kai Biermann , Martin Haase
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Brüter, schneller
    Ausdrücke, die einen komplexen Sachverhalt zu vereinfachen suchen, sind selten glücklich gewählt. Der schnelle Brüter oder Brutreaktor zum Beispiel brütet nicht und schon gar nicht schnell. Sprachlich ist er eine Enallage, also die Zuordnung eines Adjektivs zu einem Wort, mit dem es inhaltlich nichts zu tun hat. Gemeint ist ein Atomkraftwerk, das nicht primär dazu dient, Energie zu erzeugen. Das tut es auch. Es soll aber vor allem für sich selbst und andere Atomkraftwerke Plutonium produzieren – ist also eine Plutoniumfabrik. Plutonium ist radioaktiv, giftig und taugt als Grundstoff von Atombomben. Und es braucht zur Kühlung des Ganzen flüssiges Natrium. Der Stoff hat den Nachteil, dass er reichlich hektisch reagiert, wenn er mit Luft oder Wasser in Berührung kommt. Was den Reaktor insgesamt zu einer gigantischen Bombe machen kann. Das Adjektiv »schnell« nun bezieht sich nicht auf das Brüten oder auf die Geschwindigkeit, in der er im Zweifel hochgeht, sondern auf die Neutronen. Normalerweise werden die bei der Kernspaltung freigesetzten Neutronen zum Beispiel durch Wasser gebremst, wobei sie Energie in Form von Wärme abgeben. Im schnellen Brüter ist dieser Bremseffekt nicht erwünscht, die Neutronen sollen in andere Atomkerne einschlagen und das umgebende Uran in Plutonium umwandeln. Das alles führt dazu, dass ein schneller Brüter schwerer zu kontrollieren ist als ein normaler Reaktor. Hatten wir schon erwähnt, dass ein schneller Brüter schneller als ein AKW vom Normalzustand der Gerade-Noch-Steuerbarkeit (interessanterweise »kritisch« genannt) in den der Unsteuerbarkeit (»prompt überkritisch«) übergeht? Die Bezeichnung schneller Brüter also, die eher an die Aufzucht puscheliger Küken denken lässt, ist mindestens unpassend. Oder, um Mr. Burns aus den »Simpsons« zu zitieren: »Oh, ›meltdown‹. It’s one of those annoying ›buzzwords‹. We prefer to call it an unrequested fission surplus.« Das ist Satire, aber abwegig ist sie nicht. Denn hier wird durch Sprachschöpfungen vertuscht, dass es die wohl gefährlichste Technik ist, der sich Menschen derzeit so bedienen.

C
    Content
    Content ist ein Wichtigtuerwort. Verlags- und Werbemenschen fuchteln damit herum, wenn sie die Dinge meinen, die in Konzerten gespielt, im Fernsehen gezeigt, in Zeitungen gedruckt oder im Internet veröffentlicht werden. Texte klingt aber auch langweilig, nicht so cool wie Content . Englisch schließlich ist hierzulande längst Zweitsprache. Das führt gelegentlich zu skurrilen Erfindungen wie dem Rückenladen aka Back-Shop und dem WC-Center , also der Pinkelzentrale, so etwas wird aber als schick empfunden. So erfolgreich waren die Werbemenschen, dass der Content sich bald eine ganze Branche eroberte. Doch geht es nicht nur um Wichtigtuerei. In dem Bemühen, sich durch den Anschein harter Arbeit aufzuwerten, beschreiben sich Sender und Verlage gern als Contentindustrie, siehe auch →   Finanzindustrie . Das hat den Vorteil, dass niemand mehr an die Autoren denkt, die sich all die Texte, Bilder und Töne ausgedacht haben und denen ihre Verwertungsrechte abgepresst wurden. Der Content ist weit von ihnen entfernt und lässt sich damit viel unbeschwerter vermarkten. Wie der Autor und Blogger Sascha Lobo twitterte: »Inhalte nennt man in Deutschland immer dann ›Content‹, wenn jemand damit Geld verdienen will.« Womit das unscheinbare englische Wort für »Inhalt« langsam zum Euphemismus wird. Denn diese »Industrie« produziert keine Musik, keine Bilder und keine Texte. Sie verwertet sie lediglich beziehungsweise die damit verbundenen Rechte der Urheber. Kritiker werfen den Firmen deswegen vor, das Wort Content beschreibe ihren Umgang mit der Arbeit vieler kreativer Menschen nur allzu gut, und bezeichnen sie daher als »Contentmafia«. Natürlich ist die »Mafia« in diesem Zusammenhang genauso unsinnig wie die »Industrie«. Es zeigt jedoch: Aus dem einstigen Deppenbegriff ist eine Kampfvokabel geworden. Das war nur möglich, weil der Ausdruck, der ja für Inhalt steht, ironischerweise so inhaltsarm ist, dass er überallhin passt.

Cyberabwehrzentrum
    Quizfrage: Was wehrt ein Cyberabwehrzentrum ab? Einen Cybernauten? Die Kybernetik an sich? Oder gleich das ganze Internet? Wir wissen es nicht. Ursprünglich war cyber ein altgriechisches Präfix und hieß »Steuerung«, später wurde es zum Modewort für alles, was mit dem Internet zu tun hat. Doch das damit gebaute Neuwort verwirrt
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