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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin
Autoren: Lena Gorelik
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Nikolaj Petrowitsch sich vehement dagegen ausgesprochen, obwohl er noch nie einen Fernseher gesehen hatte und ihn auch nicht zu sehen bekommen würde, denn der Fernseher, schätzte er, wäre in dem Zimmer platziert worden, in dem seine Eltern und seine Schwester schliefen, nicht in der Küche, und warum auch sollten Nikolaj Petrowitsch und seine Frau, die noch nicht einmal die von der Schwiegermutter aus dem Süden geschickten Orangen teilten, vom Fernseher profitieren? Dann hatte seine Mutter auf die Kosten verwiesen, also würden sie wahrscheinlich nie einen Fernseher bekommen, selbst wenn sein Vater jemals dran wäre.
    Auch gut. Momentan hoffte er auf einen Fotoapparat zu Neujahr, und immerhin hatte Vater diese Hoffnung mit «Na, das ist mal ein sinnvoller Wunsch» kommentiert. Es waren noch drei Wochen bis zum Fest, und im Gegensatz zu einer Maschine – einer Maschine, die Wäsche waschen sollte! – konnte er sich eine «Ljubitel» unter dem Neujahresbaum sehr gut vorstellen.
    Zu Hause holte er seinen Zeichenblock hervor und versuchte, die Maschine zu zeichnen. Ein großer quadratischer Kasten mit einem Waschbecken und Wasserhahn vielleicht, aber wie lief das Waschen dann ab? Jurka hatte gesagt, die Maschine mache alles selbst, sogar das Auswringen. Zum Wringen brauchte man doch Arme und Hände! Er riss die Seite aus, zerknüllte sie, zielte auf den Mülleimer und traf. Begann, einen Roboter zu zeichnen, mit Armen und Händen, obwohl Jurka auch auf Nachfrage hin betont hatte, es handele sich um keinen Roboter im Sinne von Roboter. So ein Roboter wäre doch viel besser, der könnte auch Geschirr abspülen und Müll zum Müllschlucker bringen, dann müsste er das nicht ständig tun.
    Seine Schwester kam herein. Anastasia kam fast jeden Tag später aus der Schule als er, obwohl sie jünger war und Geographie, Literatur und Naturkunde noch gar nicht hatte. Dafür war sie in fast jeder Arbeitsgemeinschaft aktiv, die für ihren Jahrgang angeboten wurde, und obendrein Kommandeurin in ihrem «Stern» der Jungpioniere. Jedes der fünf Mitglieder musste in seinem jeweiligen «Stern» eine Aufgabe übernehmen, er war in seinem der Bibliothekar, da musste man nicht viel tun. Er hatte es außerdem mit der Schach- AG probiert, aber der Lehrer hatte verlangt, dass sie schweigend über den nächsten Zug sinnierten, und Schweigen war nicht seine Stärke; er wollte gerne Theater spielen, aber die nahmen erst ab der sechsten Klasse auf. Nächstes Jahr!
    «Malst du schon wieder?», fragte Anastasia ohne Begrüßung.
    «Raus mit dir», gab er ebenfalls grußlos zurück.
    «Ich meine ja nur … Ich hoffe, du achtest auf deine Perspektiven!», fügte sie aufmüpfig hinzu und schüttelte den Kopf, und das Kopfschütteln erinnerte ihn sehr an das Kopfschütteln von Ludmila Aleksandrovna, die gerade ihre Klassenlehrerin war und einmal die seine gewesen war, dieses Kopfschütteln hatte er drei Jahre lang beinahe täglich gesehen. Seine Schwester ahmte neuerdings die erwachsenen Frauen nach, seine Mutter, Tante Mascha, die Großmutter, die Lehrerin, einmal, so meinte er, sogar die Frau von Nikolaj Petrowitsch. Es nervte ihn immens. Anastasia war bis vor kurzem eine recht folgsame Kumpanin gewesen.
    «Du weißt doch gar nicht, was Perspektiven sind! Raus jetzt», rief Grischa ihr zu und stand sogar auf, um sie hinauszuschmeißen. In zwei Stunden würde sein Bruder nach Hause kommen, dann seine Mutter und sein Vater, und so lange wollte er die Ruhe und das Zimmer für sich alleine genießen und nutzen.
    «Ich weiß jetzt genug über Perspektiven», und das Aussprechen des Begriffes machte ihr noch Schwierigkeiten, «um zu wissen, dass du deinen Umgang mit ihnen überdenken solltest!» Es gelang ihr, die Tür hinter sich zu schließen, bevor er sie zuknallen konnte, das ärgerte ihn ebenfalls.
    Sie glaubte noch an Väterchen Frost und wagte es, mit ihm über Perspektiven zu sprechen! Was sie nur alle mit den Perspektiven hatten. Erst seine Kunstlehrerin, dann die Klassenleiterin, dann seine Eltern (und damit die Verwandtschaft, die Nachbarn, auch die aus der Wohnung unter ihnen), und die Schuldirektorin Walentina Iwanowna. Eingangs hatten ihm alle großes Talent zugesprochen, ihn für die Kunstolympiade im Palast der Pioniere aufgestellt, Mutter hatte seine Bilder von Großmutters Wänden (in ihrer eigenen Wohnung hingen keine) abgenommen und stolz in einer großen Pappmappe, die sein Vater irgendwo aufgetrieben hatte, eigenhändig in die
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