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Die linkshändige Frau - Erzählung

Die linkshändige Frau - Erzählung

Titel: Die linkshändige Frau - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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im Sandkasten.«
    Sie schauten nur und aßen. Die Frau lachte auf;schüttelte den Kopf. Dann erzählte sie: »Vor vielen Jahren habe ich einmal Bilder von einem amerikanischen Maler gesehen, vierzehn in einer Reihe, die die Leidensstationen Jesu Christi darstellen sollten – du weißt, wie er Blut schwitzt auf dem Ölberg, wie er gegeißelt wird, undsoweiter … Diese Bilder bestanden aber nur aus schwarzweißen Flächen, ein weißer Untergrund, über den längs und quer schwarze Streifen gingen. Die vorletzte Station – ›Jesus wird vom Kreuz genommen‹ – war fast schwarz zugemalt, und die Station danach, die letzte, wo Jesus ins Grab gelegt wird, auf einmal völlig weiß. Und jetzt das Seltsame: ich ging an dieser Reihe langsam vorbei, und wie ich vor dem letzten Bild stand, dem ganz weißen, habe ich plötzlich darauf das fast schwarze als flimmerndes Nachbild noch einmal gesehen, einige Augenblicke lang, und dann nur noch das Weiß.«
    Sie schauten, aßen und tranken. Das Kind versuchte zu pfeifen, was ihm in der Kälte nicht gelang. Die Frau sagte: »Machen wir noch ein Foto, bevor wir gehen.«
    Das Kind fotografierte sie mit einer unförmigen alten Polaroidkamera. Auf dem Bild war sie sehr von unten zu sehen, herabschauend, gegen den Himmel; kaum die Baumspitzen mit darauf. Die Frau rief wie erschrocken: »So sehen die Kinder also die Erwachsenen!«
    Im Badezimmer zu Hause stieg sie in die Wanne, das Kind zu ihr. Sie lehnten sich beide zurück und schlossen die Augen. Das Kind sagte: »Ich sehe noch immer die Bäume vom Berg.« Vom Wasser stieg Dampf auf. Die Siedlung erschien nun in der Dämmerung wie zugehörig zu dem Wald, der dahinter anstieg, und dem helldunklen Himmel. Das Kind pfiff in der Badewanne, und die Frau betrachtete es, fast streng.
    In der Nacht saß sie aufgerichtet an der Schreibmaschine und tippte schnell.
    Am Tag ging sie in der Fußgängerzone des kleinen Ortes unter andern, mit einer Plastiktragetasche, die zerknittert war und schon oft benützt schien. Zwischen den Leuten vor ihr war Bruno. Sie folgte ihm, während er sich weiterbewegte. Nach einiger Zeit drehte er sich wie zufällig um, und sie sagte sofort: »In dem Geschäft da vorne habe ich kürzlich einen Pullover gesehen, der dir passen würde.« Sie nahm ihn gleich am Arm, und sie betraten den Laden, in dem eine Verkäuferin, eine Schaufensterpuppe hinter sich, mit geschlossenen Augen dasaß, die Hände, die ziemlich rot und rauh waren, im Schoß, und sich gerade entspannte; die Brauen wie im Schmerz der Beruhigung zusammengezogen, während die Mundwinkel nach unten hingen. Beim Eintritt der beiden erhob sie sich und warf dabei den Stuhl um; stolperteüber einen auf dem Boden liegenden Kleiderbügel.
    Sie nieste und setzte sich eine Brille auf; nieste wieder.
    Die Frau sagte langsam, wie zur Beschwichtigung: »Ich habe letzte Woche einen grauen Männerpullover aus Cashmere in der Auslage gesehen.«
    Die Verkäuferin suchte in einem Regal mit dem Finger. Die Frau, ihr über die Schulter schauend, holte den Pullover hervor und reichte ihn Bruno zum Probieren. Aus einer Ecke, wo auf dem Boden ein Körbchen stand, kam Babygeschrei. Die Verkäuferin sagte: »Ich traue mich nicht in seine Nähe, mit meinem Schnupfen.« Die Frau ging und beruhigte das Kind, einfach indem sie sich über den Korb beugte. Bruno hatte den Pullover an und schaute auf die Verkäuferin, die nur die Achseln zuckte und sich lange schneuzte. Die Frau bedeutete Bruno leise, ihn gleich anzubehalten. Er wollte bezahlen, doch sie schüttelte den Kopf, zeigte auf sich, gab der Verkäuferin einen Schein. Die Verkäuferin deutete auf die leere Kasse, und die Frau sagte in dem gleichen leisen Ton, sie würde wegen des Wechselgeldes morgen vorbeikommen. »Oder besuchen Sie mich. Ja, besuchen Sie mich!« Sie schrieb schnell ihre Adresse auf. »Sie sind doch allein mit dem Säugling, nicht wahr? Es tut gut, in einer Boutique einmal jemand andern als ein geschminktes Gespenst zu sehen.Verzeihen Sie, daß ich von Ihnen rede, als dürfte ich das; als könnte ich das.«
    Während sie hinausgingen, holte die Verkäuferin einen Taschenspiegel hervor und schaute sich an; sie hielt sich einen Schnupfenstift unter die Nase, strich sich damit über die Lippen.
    Draußen sagte die Frau zu Bruno: »Du lebst also noch.«
    Bruno antwortete, fast heiter: »Ich wundere mich auch an manchen Nachmittagen plötzlich, noch vorhanden zu sein. Gestern habe ich übrigens gemerkt, daß ich
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