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Die linkshändige Frau - Erzählung

Die linkshändige Frau - Erzählung

Titel: Die linkshändige Frau - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Sie war dreißig Jahre alt und lebte in einer terrassenförmig angelegten Bungalowsiedlung am südlichen Abhang eines Mittelgebirges, gerade über dem Dunst einer großen Stadt. Sie hatte Augen, die, auch wenn sie niemanden anschaute, manchmal aufstrahlten, ohne daß ihr Gesicht sich sonst veränderte. An einem Winterspätnachmittag saß sie in dem gelben Licht, das von außen kam, am Fenster des ausgedehnten Wohnraums an einer elektrischen Nähmaschine, daneben ihr achtjähriger Sohn, der einen Schulaufsatz schrieb. Die eine Längsseite des Raums war eine einzige Glasfront vor einer grasbewachsenen Terrasse mit einem weggeworfenen Christbaum und der fensterlosen Mauer des Nachbarhauses. Das Kind saß an einem braungebeizten Tisch über das Schulheft gebeugt und schrieb mit der Füllfeder, wobei seine Zunge zwischen den Lippen hervorleckte. Manchmal hielt es inne, schaute zur Fensterfront hinaus und schrieb dann eifriger weiter; oder es blickte zu der Mutter hin, die, obwohl abgewendet, es merkte und zurückblickte. Die Frau war mit dem Verkaufsleiter der lokalen Filiale einer in ganz Europa bekannten Porzellanfirma verheiratet, der an diesem Abend nach einer mehrwöchigen Geschäftsreise aus Skandinavien zurückkommen sollte. Die Familie war nicht wohlhabend, lebte aber in bequemen Verhältnissen, der Bungalowwar gemietet, da der Mann jederzeit versetzt werden konnte.
    Das Kind war mit dem Schreiben fertig und las vor: »›Wie ich mir ein schöneres Leben vorstelle‹: Ich möchte, daß es weder kalt noch heiß ist. Ein lauer Wind soll immer wehen, manchmal ein Sturm, in dem man sich hinhocken muß. Die Autos verschwinden. Die Häuser wären rot. Die Sträucher wären Gold. Man wüßte schon alles und brauchte nichts mehr zu lernen. Man würde auf Inseln wohnen. Auf den Straßen stehen die Autos offen, und man kann hinein, wenn man müde ist. Man ist überhaupt nicht mehr müde. Die Autos gehören niemandem. Am Abend bleibt man immer auf. Man schläft ein, wo man gerade ist. Es regnet nie. Von allen Freunden gibt es jeweils vier, und die Leute, die man nicht kennt, verschwinden. Alles, was man nicht kennt, verschwindet.«
    Die Frau stand auf und schaute zu dem schmaleren Querfenster hinaus, vor dem weiter weg einige Fichten standen, die sich nicht bewegten. Zu Füßen der Bäume waren mehrere Reihen von Einzelgaragen, ähnlich rechteckig und mit den gleichen Flachdächern wie die Bungalows, eine Zufahrtsstraße davor, wo ein Kind über den schneefreien Gehsteig einen Schlitten zog. Weit hinter den Bäumen lagen unten im Flachland die Ausläufersiedlungen der Großstadt, und ein Flugzeugstieg gerade aus der Ebene auf. Das Kind kam heran und fragte die Frau, die völlig versunken, doch nicht erstarrt, eher nachgiebig, dastand, wohin sie denn schaue. Die Frau hörte nichts, blinzelte nicht. Das Kind schüttelte sie und rief: »Wach auf!« Die Frau kam zu sich und legte dem Kind die Hand auf die Schulter. Das schaute nun auch hinaus, versank seinerseits in den Anblick, mit sich öffnendem Mund. Es schüttelte sich nach einer Weile und sagte: »Jetzt habe ich mich auch verschaut, wie du!« Beide fingen zu lachen an und konnten nicht aufhören; wenn sie still wurden, fing gleich einer wieder an, und der andre lachte mit. Schließlich umarmten sie einander vor Lachen und fielen zusammen zu Boden. Das Kind fragte, ob es jetzt den Fernseher einschalten dürfe. Die Frau antwortete: »Wir wollen doch Bruno vom Flughafen abholen.« Es schaltete aber schon das Gerät ein und setzte sich davor. Die Frau beugte sich zu ihm und sagte: »Wie soll ich also deinem Vater, der wochenlang im Ausland war, erklären, daß …« Das fernsehende Kind hörte nichts mehr. Die Frau rief es laut; machte mit den Händen einen Schalltrichter, als sei es im Freien irgendwo; aber es starrte nur in den Apparat. Sie bewegte die Hand vor seinen Augen, worauf das Kind den Kopf zur Seite legte und mit aufgerissenem Mund weiter schaute.
    Die Frau stand draußen in einem Garagenhof, imoffenen Pelzmantel, bei beginnender Dämmerung, wo die Schneepfützen gerade zufroren. Überall lagen auf dem Gehsteig die abgefallenen Nadeln der weggeschafften Christbäume. Während sie die Garagentür aufsperrte, blickte sie zu der Siedlung hinauf, wo in einigen der übereinandergebauten, schachtelförmigen Bungalows schon die Lichter an waren. Hinter der Siedlung begann ein Mischwald, hauptsächlich aus Eichen, Buchen und Fichten, der von da an zu einem der
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