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Die linkshändige Frau - Erzählung

Die linkshändige Frau - Erzählung

Titel: Die linkshändige Frau - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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es!« Er ging weg und rief dabei zurück: »Sie sind ja noch gar nicht entdeckt! Ich freue mich, Sie von Film zu Film älter werden zu sehen.«
    Der Schauspieler und die Frau sahen dem Vater nach, gaben dann einander zum Abschied die Hand und zuckten gleichzeitig zurück von einem leichten elektrischen Schlag.
    Die Frau sagte: »Im Winter wird alles elektrisch.«
    Sie wollten sich trennen, merkten dann aber, daß sie dieselbe Richtung hatten; so gingen sie schweigend nebeneinander her. Vor dem Parkplatz, wo sie den Vater einholten, verabschiedeten sie sich mit einem Kopfnicken noch einmal, gingen jedochwieder gemeinsam weiter, weil ihre Autos, wie sich zeigte, fast nebeneinander standen.
    Fahrend sah die Frau, wie der Mann sie überholte; er schaute geradeaus; sie bog ab.
    Sie stand mit dem Vater und dem Kind am Bahnhof. Als der Zug einfuhr, sagte sie: »Es hat mir gutgetan, daß du hier warst, Vater.« Sie wollte weiterreden, stotterte aber nur. Der Vater machte verschiedene Gesten und sagte plötzlich zu dem Kind, das die Reisetasche anhob: »Du weißt, daß ich immer noch nicht die Farben unterscheide. Aber du mußt wissen, daß es auch noch etwas anderes gibt, das ich immer noch nicht tue: obwohl ich bald ein Greis genannt werden kann, gehe ich zu Hause nicht in Hausschuhen, und darauf bin ich fast stolz!« Er stieg sehr behende, ohne zu stolpern, rückwärts das Trittbrett hinauf und verschwand im Zug, der schon anfuhr. Das Kind sagte: »Er ist ja gar nicht so ungeschickt.« Die Frau: »Er hat immer nur so getan.«
    Sie standen auf dem leeren Bahnsteig – der nächste Zug würde erst wieder in einer Stunde einfahren – und blickten sich um nach dem sehr langsam ansteigenden Berg hinter der Ortschaft. Die Frau sagte: »Morgen gehen wir da hinauf! Ich war noch nie oben.« Das Kind nickte. Die Frau: »Aber wir werden nicht trödeln dürfen. Die Tage sind noch sehr kurz. Nimm den Kompaß mit.«
    Am Spätnachmittag waren sie in einem Freilichtzoo in der Nähe, unter vielen Leuten, die sich stumm durch das Gehege bewegten; nur in einem Spiegelkabinett standen welche und lachten. Die Sonne sank, und die meisten Besucher gingen schnell dem Ausgang zu. Die Frau und das Kind standen an einem Käfig und schauten. Es dämmerte; es wurde windig, und sie waren fast allein. Die Frau saß am Rand einer Betonfläche, auf der das Kind mit einem Elektroauto im Kreis fuhr.
    Die Frau stand auf, und das Kind rief: »Es ist so schön hier. Ich möchte noch nicht nach Hause.« Die Frau: »Ich auch nicht. Ich bin nur aufgestanden, weil es so schön ist.«
    Sie betrachtete den am unteren Rand noch gelben westlichen Himmel, vor dem die blattlosen Zweige besonders kahl erschienen. Der Wind trieb plötzlich von irgendwoher einige trockene Blätter über die Betonpiste, wie aus einer anderen Jahreszeit.
    Sie kamen in der Dunkelheit vor ihrer Haustür an. Im Briefkasten war ein Brief. Die Frau las die Adresse und gab ihn dem Kind. Sie steckte den Schlüssel in das Haustürschloß, sperrte aber nicht auf. Das Kind wartete; sagte schließlich: »Wollen wir nicht hinein?«
    Die Frau: »Ach bleiben wir doch noch ein bißchen im Freien!«
    Sie standen lange vor der Haustür. Ein Mann mit einem Aktenköfferchen ging an ihnen vorbei und schaute sich immer wieder nach ihnen um.
    Am Abend, während die Frau in der Küche das Essen zubereitete und zwischendurch in den Wohnraum lief, um ihr Manuskript zu korrigieren, las sich das Kind selber halblaut den Brief vor: »Lieber Stefan! Gestern habe ich dich gesehen, wie du von der Schule nach Hause gingst. Ich fuhr in einer Schlange und konnte schlecht anhalten. Du hattest deinen dicken Freund im Schwitzkasten.« An dieser Stelle lächelte das lesende Kind. »Manchmal glaube ich, daß es Dich nie gegeben hat. Ich möchte Dich bald sehen und« – hier zog das lesende Kind die Brauen zusammen – »an Dir schnüffeln …«

    In der Nacht saß die Frau allein im Wohnraum und hörte Musik, immer wieder dieselbe Platte: »The Lefthanded Woman«.

    Sie kam mit andern aus einem Untergrundschacht
    Sie aß mit andern in einem Schnellimbiß
    Sie saß mit andern in einem Waschsalon
    aber einmal habe ich sie allein vor einem Zeitungsaushang stehen sehen

    Sie kam mit andern aus einem Büroturm
    Sie drängte mit andern an einen Marktstand
    Sie saß mit andern um einen Sandspielplatz
    aber einmal habe ich sie durch ein Fenster
    allein schachspielen sehen

    Sie lag mit andern auf einem Parkrasen
    Sie lachte mit andern
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