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Die linkshändige Frau - Erzählung

Die linkshändige Frau - Erzählung

Titel: Die linkshändige Frau - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Mittelgebirgsgipfel flach anstieg, ohne ein Dorf oder auch nur ein Haus dazwischen. Das Kind erschien am Fenster ihrer »Wohneinheit«, wie ihr Mann den Bungalow nannte, und hob den Arm.
    Am Flughafen war es noch nicht ganz dunkel; die Frau sah, bevor sie die Auslandsankunftshalle betrat, über den Fahnenstangen mit den durchscheinenden Fahnen helle Flecken am Himmel. Sie stand unter andern und wartete; ihr Gesicht erwartungsvoll, doch entspannt; offen und für sich. Nach der Durchsage, daß die Maschine aus Helsinki gelandet sei, kamen die Passagiere hinter den Zollbarrieren hervor, Bruno unter ihnen, einen Koffer und die Tragetasche eines D UTY-FREE-SHOPS in den Händen; das Gesicht starr vor Erschöpfung. Er war kaum älter als sie und trug immer einen zweireihigen grauen Nadelstreifenanzug mit offenem Hemd. Seine Augen waren sobraun, daß man kaum die Pupillen sah; er konnte die Leute lange anschauen, ohne daß sie sich geprüft fühlten. Als Kind war er Schlafwandler gewesen; auch als Erwachsener sprach er oft im Traum.
    In der Halle, vor allen Leuten, legte er den Kopf auf die Schulter der Frau, als müsse er sich dort in dem Pelz auf der Stelle ausruhen. Sie nahm ihm Tasche und Koffer aus den Händen, und jetzt konnte er sie umarmen. Sie standen lange so; Bruno roch ein wenig nach Alkohol.
    Im Lift, der zur Tiefgarage hinunterführte, schaute er sie an, während sie ihn betrachtete.
    Sie stieg zuerst ins Auto und öffnete ihm die Tür zum Nebensitz. Er blieb noch draußen stehen, schaute vor sich hin. Er schlug sich mit der Faust an die Stirn; hielt sich dann mit den Fingern die Nase zu und blies sich die Luft aus den Ohren, als seien ihm diese von dem langen Flug noch verstopft.
    Im fahrenden Auto auf dem Zubringer zu der kleinen Stadt am Abhang des Mittelgebirges, wo die Bungalowsiedlung lag, fragte die Frau, mit der Hand am Autoradio: »Willst du Musik?« Er schüttelte den Kopf. Es war inzwischen schon Nacht, und in den Büro-Hochhauskomplexen neben der Straße waren fast alle Lichter aus, während die Wohnsiedlungen rundherum an den Hügeln hell flimmerten.
    Nach einiger Zeit sagte Bruno: »Es war immer nur dunkel in Finnland, Tag und Nacht. Und von der Sprache, die die da sprachen, habe ich kein Wort verstanden! In jedem anderen Land gibt es doch wenigstens ähnliche Wörter – aber da war nichts Internationales mehr. Das einzige, was ich behalten habe, ist das Wort für Bier: ›olut‹. Ich war ziemlich oft betrunken. An einem Frühnachmittag, als es gerade ein bißchen hell geworden war, habe ich in so einem Selbstbedienungscafé gesessen und plötzlich den Tisch zu zerkratzen angefangen. Die Dunkelheit, die Kälte in den Nasenlöchern, und ich konnte mit niemandem reden. Daß ich einmal in der Nacht die Wölfe heulen hörte, war fast schon ein Trost. Oder daß ich ab und zu in ein Klosettbecken mit den Initialen unserer Firma pinkelte! Ich wollte dir etwas sagen, Marianne: Ich habe da oben an dich gedacht, und an Stefan, und ich hatte nach diesen langen Jahren, die wir nun zusammen sind, zum ersten Mal das Gefühl, daß wir zueinander gehören. Ich kriegte plötzlich Angst, verrückt zu werden vor Alleinsein, verrückt auf eine grauenhaft schmerzhafte, noch von niemandem erlebte Weise. Ich habe dir oft gesagt, daß ich dich liebe, aber erst jetzt fühle ich mich mit dir verbunden. Ja, auf Leben und Tod. Und das Seltsame ist, daß ich sogar ohne euch sein könnte, jetzt, da ich das erlebt habe.« Die Frau legte Bruno nach einiger Zeit dieHand auf das Knie und fragte: »Und die Verhandlungen?«
    Bruno lachte: »Die Aufträge nehmen wieder zu. Wenn die Nordländer schon schlecht essen, dann wenigstens von unserem Porzellan. Das nächste Mal werden die Kunden dort sich zu uns herunter bemühen müssen. Der Preisverfall ist aufgehalten; wir brauchen nicht mehr so hohe Rabatte zu geben wie noch in der Krise.« Er lachte wieder: »Die sprechen nicht einmal englisch. Wir mußten uns über eine Dolmetscherin unterhalten, eine alleinstehende Frau mit Kind, die hier studiert hat, im Süden, glaube ich.«
    Die Frau: »Glaubst du?«
    Bruno: »Nein, ich weiß es natürlich. Sie hat es mir erzählt.«
    In der Siedlung gingen sie an einer beleuchteten Telefonzelle vorbei, in der sich schattenhaft jemand bewegte, und bogen in eins der engen, künstlich verwinkelten Gäßchen ein, die die Siedlung querteilten. Er legte den Arm um ihre Schulter. Während die Frau die Tür aufsperrte, schaute sie sich noch einmal um,
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