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Die letzten Städte der Erde

Die letzten Städte der Erde

Titel: Die letzten Städte der Erde
Autoren: C.J. Cherryh
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den Wunsch, etwas zu sehen. Es war schlimm genug, den Blick der uralten Augen derer mit vielen Leben zu ertragen; die Augen von ihr wollte er nun wirklich überhaupt nicht sehen, sich nicht davon überzeugen, was die Gerüchte besagten, ob dort alle Seelen zu finden waren, die sie je aufgesogen hatte. Die Wärme ihrer Lippen war durch die Gaze hindurch zu spüren, berührte ihn sanft, und ihre Hände waren sanft und freundlich.
    Dann ging sie fort. Er spürte, wie Ermine seine Hand ergriff, die kalt war und schweißbedeckt. Er setzte sich wieder auf den Thron der Gegenwartshalle, und Ermine nahm ihren Platz an seiner Seite ein. Ehrfurcht war in den Gesichtern der Umstehenden zu erkennen, aber kein Beifall.
    »Sie ist wieder hervorgekommen«, flüsterte jemand. »Und sie hat es schon seit Äonen nicht mehr getan. Aber ich erinnere mich an die alten Tage. Vielleicht geht sie wieder auf die Jagd. Sie ist
erwacht
und spürt Interesse.«
    »Onyx hat das angerichtet«, flüsterte eine andere Stimme. Und in dieser Kälte gingen die letzten der Hochzeitsgäste hinaus.
    Die Türen des Jadepalastes wurden geschlossen. »Verriegelt sie!« befahl der Älteste. Es war das erste Mal seit Jahrhunderten.
    Und Ermines Hand lag sehr kalt in der Alains. »Madam«, sagte er, »sind Sie zufrieden?«
    Sie antwortete nicht und sprach auch später nicht mehr davon.
    Die Stadt hatte ihre Zeiten besonderer Ereignisse. Sie wurden gekennzeichnet durch die Jahrestage der Paläste, durch vorzügliche Unterhaltungen, durch Geburten und Tode.
    Die Rückkehr Claudettes war ein solches Ereignis, als ein Kind, kaum ein Jahr alt, mit klugen blauen Augen seinen früheren Namen bekanntgab und alte Freunde herbeiströmten, um die Angelegenheit zu feiern.
    Die Wiederkehr von Pertito und Legran war ebenfalls ein Ereignis, denn sie erschienen als Zwillingsschwestern in Onyx, und diese Komplikation erregte die ganze Stadt mit wilden Spekulationen, deren Wert sich erst Jahre später erweisen würde.
    Die Anwesenheit von Jade Alain bei jeder dieser Gelegenheiten wurde mit einer Schmerzlichkeit zur Kenntnis genommen, die jedes empfindsame Gemüt befriedigte aufgrund der bemerkenswerten Erkenntnis, daß Onyx Ermine, die sich in Schande verbarg, unvermeidlicherweise zu ihnen zurückkehren würde, dieser hervorragendste aller jungen Männer jedoch nicht.
    Einer der größten Zyklen und eines der kürzesten Leben bestanden in inniger Beziehung zueinander. Das versprach Wandel.
    Und was den Tod anbetraf... – sie mußte nicht auf die Jagd gehen, denn die geringeren Seelen, die die Mode in diesem Drama zu imitieren suchten, strömten in unüblich großer Zahl zu ihrem Lager – manche neugierig und manche aus selbstzerstörerischen Motiven, erstrebten für sich den einen großen Augenblick der Leidenschaft und traurigen Berühmtheit, nachdem tausendmal tausend Jahre es nicht geschafft hatten, ihnen zu Ruhm zu verhelfen.
    Sie erreichten natürlich nicht, was sie wollten, denn solche Todesfälle folgten nur einer Mode und begründeten nicht selbst eine; und im Tode mangelte es ihnen genauso an Einfallsreichtum wie im Leben.

    Es war das vierte Jahr, worauf die Stadt wartete. Und als es anbrach:
»Drei Viertel sind vorüber«, sagte Onyx Ermine. In der Schmach ihrer Einschließung im Jadepalast war sie noch blasser geworden. Während der Tage vor diesem Hochzeitstag hatte sie alte Freunde von Onyx empfangen, das erste Mal in ihrem ehelichen Leben, daß sie Besucher empfangen hatte. Alain hatte daraufhin einen Wandel in ihrer Liebeskunst festgestellt, daß nämlich, was vorher angenehm gleichgültig gewesen war, jetzt – Leidenschaft gewann. Vielleicht lag es am Anstieg ihrer Stimmung. Auch andere Möglichkeiten einschließlich eines früheren Geliebten kamen in Frage. Alain war zweiundzwanzig und erkannte Dinge jetzt deutlicher als früher.
    »Du wirst etwas verlieren«, erinnerte er sie kalt, »ohne Widerruf und ohne Wiederholung. Das sollte dein langes Dasein beleben.«
    »Ah«, sagte sie, »sprich nicht davon! Ich bereue diesen Handel. Ich möchte diese schreckliche Sache nicht, ich will sie nicht. Ich möchte nicht, daß du stirbst.«
    »Dafür ist es zu spät«, sagte er.
»Ich liebe dich.«
    Das überraschte ihn, erzeugte Furchen auf seiner Stirn und fast Wärme in seinem Herzen, aber er konnte nicht mehr aufbringen als Traurigkeit. »Das tust du nicht«, meinte er. »Du liebst das Neue, das ich mitgebracht habe. Du hast noch nie ein lebendes Wesen geliebt, nicht
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