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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling
Autoren: Jutta Mehler
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    An einem stark bewölkten Septembertag des Kriegsjahres 1944 erschien – schwarz umrahmt – im niederschlesischen »Tagblatt« die Nachricht, dass Gott wieder einmal das große Amen gesprochen habe. Diesmal jedoch nicht an der Front im Osten oder Westen, sondern in der Gemeinde Habendorf, im ersten Stock bei Weber Wänig.
    »Gott sprach das große Amen! Er rief unsere gute Mutter zu sich und führte sie heim in sein Reich!«
    Ulrich stellte sich auf die Zehenspitzen und betrachtete beifällig besagte Todesanzeige, die, ordentlich aus der Zeitung herausgeschnitten, zwischen Rahmen und Glas im Fenster des Küchenbüfetts steckte.
    Sooft Gevatter Tod einem der Habendorfer Häuschen einen Besuch abstattete, brachte er Arbeit und meist auch hinreichenden Lohn für Ulrichs Vater, Schreiner Scheller, mit.
    »Des einen Leid, des andern Freud«, pflegte die Mutter zu sagen, und Ulrich hatte längst begriffen, was sie damit meinte. Während bei den Wänigs Tränen flossen, konnten die Scheller-Buben insgeheim Freudentänze aufführen, denn bald würde Vater Scheller eine Handvoll Münzen in die Kassette auf der Anrichte legen – für Leberwurst, für Pflaumenmus, für Zuckerrübensirup.
    Die alte Mutter Wänig würde dieser Tage vorschriftsmäßig unter die Erde gebracht werden müssen, und dafür benötigten die Wänigs einen Sarg. Selbst die billigste Ausführung (aus dünnwandigem Fichtenholz, ohne Zierrat, ohne Polster) versprach Lohn und Brot und Leberwurst für die Schellers.
    Ulrich kam ein Ausspruch seines Bruders Anton in den Sinn: Jeder Pfennig, den das Sargmachen einbringt, erspart uns eine Mahlzeit aus Kartoffeln in Mehlpampe.
    Ja, so war das. Und solche Mahlzeiten hatten die Schellers oft genug auf dem Tisch. Denn anders als an der Front, wo das große Amen wie ein Echo von allen Seiten hallte, brachte es in Habendorf im statistischen Jahresdurchschnitt nur zwei Komma drei Menschen pro Monat zur Strecke. Die Schellers lebten karg von diesem Umstand, der andererseits den bedauernswerten Hinterbliebenen schmerzliche Löcher ins Ersparte riss, Löcher, welche die meisten Hinterbliebenen wiederum möglichst klein zu halten bestrebt waren.
    »Mecht der Wänig dä Rußbeez anstatt dä gute schwarze Glanzlack!« Vater Scheller schüttelte ungläubig den Kopf über seinem noch leeren Teller. »Hätt ich nich gedenkt von dä Wänig, dass dä aso knausert.«
    Ulrich warf seinem Bruder einen enttäuschten Blick zu. Die Kundschaft geizte, auch das schlug sich umgehend in den Mahlzeiten nieder. Für das heutige Abendbrot bedeutete es vermutlich Graupen oder Grünkohl, eines so entmutigend wie das andere, mit einem so gut wie nichts an Schweinefleisch.
    Ulrich linste in den Topf und entdeckte etliche Brocken von rosa-weiß gestreiftem Bauchfleisch im Kraut. Erleichtert setzte er sich auf seinen Platz am Tisch. Seine Mutter begann, die Teller zu füllen.
    Während Ulrich auf seine Portion wartete, war ihm, als würde irgendetwas nicht richtig zusammenpassen. Schemenhaft fühlte er so etwas wie einen Widerspruch, eine gewisse Unvereinbarkeit, und spürte dem nach. Höchst scharfsinnig für seine knapp sieben Jahre kam er schon nach einer kleinen Weile dahinter, was es war. Beim Sarg hatte Wänig rigoros gegeizt, aber ins »Reichenbacher Tagblatt« hatte er für gutes Geld eine riesengroße Todesanzeige setzen lassen, samt Bibelspruch und Lobgesang. Warum?
    Ulrich kaute den zähen Speck und dachte gründlich über dieses »Warum« nach. Noch bevor die bekömmlich eingespeichelte Masse schluckfertig war, fiel ihm die Antwort darauf ein:
    Der Wänig hat sich wohl gedenkt, so mecht es gescheiter sein, weil der Sarg gleich unter die Erd kommt, wo ihn keiner mehr sieht. Die Todesanzeig dagegen, die wird ausgeschnitten und aufgehoben.
    Der Nachruf auf Mutter Wänig steckte noch immer am Küchenbüfett. Ulrich musterte das schlanke schwarze Kreuz samt Flor und Zweig, das den Text linksseitig begrenzte, und murmelte vor sich hin: »Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten.«
    Während er mit seiner Gabel noch mal durchs Kraut fuhr, um die letzten Fleischfasern herauszuseihen, sagte er diesen Bibelvers – den er sich gemerkt hatte, weil es gar nicht so einfach gewesen war, ihn zu entziffern – ein weiteres Mal auf.
    Als das Krauthäufchen auf seinem Teller endgültig nichts Nahrhaftes mehr hergab, wandte Ulrich seine Aufmerksamkeit wieder der Todesanzeige von Mutter Wänig zu.
    Drei Zeilenabstände
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