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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling
Autoren: Jutta Mehler
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unter Kreuz und Vers stand ein Text, den er jetzt erneut scharf ins Auge fasste:
    »Gott sprach das große Amen! Er rief unsere gute Mutter zu sich und führte sie heim in sein Reich!
    In Liebe und Dankbarkeit nehmen wir Abschied von unserer lieben Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, Trägerin des Mutterkreuzes und der goldenen Ehrennadel unseres Vereins Deutscher Hände Werk.«
    Dahinter waren sie dann aufgelistet, die Wänigs – alle.
    Und das sind nicht wänig, dachte Ulrich, ohne den Kalauer darin zu erkennen, denn das Phänomen Umlaut würde erst zum Ende der zweiten Volksschulklasse behandelt werden.
    Ulrich las die verzeichneten Namen, und einzelne Gesichter tauchten vor ihm auf: Großvater Wänig – die Züge so hölzern wie seine Gesinnung. Marie Wänig – die Augen so traurig wie ihr Geschick. Und Wolli Wänig – das Mausgesicht.
    Ulrich schreckte auf, als er die Küchentür zuschlagen hörte. »Anton? Anton!« Er sprang von seinem Platz am Tisch weg, sprintete aus dem Haus und raste hinter dem Bruder her die Dorfstraße hinunter.
    Winzige Steinchen spritzten unter Ulrichs Füßen davon, die in dem Bestreben, Anton einzuholen, Stakkatos auf den Boden trommelten.
    Antons blauer Strickpullover schoss an Bäcker Gabriels Ladentür vorbei. Ulrich rannte ihm nach, er rannte, was das Zeug hielt, dennoch vergrößerte sich der Abstand zu seinem Bruder merklich. Falls Anton sein Tempo nicht bald drosselte, würde er am Bäckereck außer Sicht gelangen.
    Macht mir nix aus, dachte Ulrich, denn es war ohnedies klar, wo Anton hinwollte.
    Das schwache Hundert Habendorfer Häuser zog sich gute viereinhalb Kilometer weit am brüchigen Rand einer Schotterstraße entlang – ärmliche Katen mit handtuchgroßen Feldern, darunter der Bäcker, der Schuster, der Wirt.
    Auf Höhe der Behausung von Schuhmacher Höhn bremste Anton und ließ Ulrich aufholen. Langsam trabten sie nebeneinander weiter.
    Habendorf, sinnierte Ulrich, ein Dorf haben. Warum nur heißt unsere Ortschaft so? Die von Langenbielau haben ja auch ein Dorf.
    Während seine Beine stetig ausgriffen, dachte Ulrich über dieses Warum nach, kam aber auf keine passable Lösung.
    Um die zu finden, hätte er wissen müssen, dass zu Zeiten der Habsburger Monarchie die an der Landstraße nach Langenbielau aufgereihten Katen unter dem Namen »Hubendorf« im Katasterblatt verzeichnet gewesen waren und dass etliche Jahrhunderte früher, unter den Karolingern, der Ort »Hufendorf« geheißen hatte. Dieser ursprüngliche Name ließ die Fachwelt eine recht simple Schlussfolgerung treffen: Die ersten Ansiedler hatten der Einfachheit halber die damalige Maßeinheit bäuerlichen Grundbesitzes – eine ganze, ungeteilte Hufe – als Dorfnamen gewählt. Heutzutage mag das so phantasielos scheinen, als hätten sie ihre Kinder Zellhaufen, Broteinheitenverband oder Molekülbatzen getauft. Aber warum sollten sich die seinerzeitigen Bauersleute Mühe geben, einen poetischen Ortsnamen für ihr armseliges Terrain zu finden? Sie kannten weiß Gott andere Sorgen, und Zukunftsaussichten hatten sie sowieso nicht. Wer hätte denn gedacht, dass sich dieses Hufendorf (der Name verschlampte im Laufe der Zeit via Hubendorf zu Habendorf) über Kaiser und Könige hinweg so zäh halten würde?
    Im September 1944 starrten die Hofstellen von Habendorf – irgendwann einmal weiß gekalkt, später rußig grau verdreckt – aus gevierteilten Fensteraugen apathisch in den Rinnstein. An ihre Flanken klammerte sich der gesamte restliche Besitz des jeweiligen Eigentümers.
    Die Wänig-Kate, aus deren Haustür die Scheller-Jungen zuvor gestürmt waren, hockte – von Langenbielau aus gesehen – am Ortsanfang vor einem schmalen Haferfeld, das in einen spitz zulaufenden Rübenacker überging. Der Acker ernährte das Wänig-Schwein. Das Haferfeld hätte die Wänig-Sippe darben lassen, wäre da nicht noch die Leinenweberei gewesen. Doch auch das unablässige Wuchten des Webstuhls konnte eine ganze Familie kaum satt machen. Und das war schon immer so gewesen.
    Lange bevor Gerhard Hauptmann zum ersten Mal einen Weber zu Wort kommen ließ, webten die Wänigs bereits in Langenbielau für nichts als Not und Hunger. Ururgroßvater Wänig hatte sich im Jahre 1844 beim Weberaufstand starkgemacht, aber das hatte ihn umgehend das Leben gekostet. Daraufhin hatte es sein Sohn nicht mehr gewagt, das Weberlied auch nur zu summen, während er die Kettfäden spannte.
    Fünfzig Jahre später, als dieses Kampflied bei der
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