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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling
Autoren: Jutta Mehler
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Ältesten florierte sie prächtig. Der hatte zwar geheiratet und gleich darauf seine jüngeren Brüder ausquartiert, aber so war halt der Lauf der Dinge. Was die Mühle abwarf, würde nur für eine Familie reichen. Zwei der jüngeren Scheller-Söhne waren in den Kreis Breslau abgewandert, um sich dort in einer der Fabriken Arbeit zu suchen. Nur Michael war geblieben, weil er sich in ein Habendorfer Mädchen verguckt hatte.
    Im September ’39 fing der Baron mit dem Rufen wieder an. Seitdem rief er unermüdlich ins Polnische hinüber, und Scharen von Arbeitssuchenden strömten in seine Gruben, Hütten und Eisenwalzwerke.
    Mit jedem zweiten Kolbenhub ließ der Deutz die Dreschtrommel schlingern. Anton zog Sack für Sack – einer so gut gefüllt wie der andere – über den Kranbalken auf den Getreidespeicher. Sein Großvater überließ ihn und den Dieselmotor ihren jeweiligen Obliegenheiten, winkte Ulrich zu sich und hielt auf die Scheune zu. Ulrich rannte ihm entzückt hinterher. Auch das, was jetzt anstand, war ganz nach seinem Geschmack. Großvater würde langsam und gleichmäßig an einer Kurbel drehen und damit die Walze in Gang setzen, die die Haferkörner platt quetschte. Ulrich würde mit seinen rundlichen Fingern die luftigen Flocken in braune Fünfpfundtüten kehren. Haferflocken, er konnte sie auf der Zunge schmecken: in Milch gekocht, mit etwas Sirup gesüßt.
    Ulrich schloss die Augen und träumte davon, für immer auf dem Dominium bleiben zu dürfen. Schluss damit, den Teller nur dann gut gefüllt zu haben, wenn einer der Nachbarn seinen Löffel endgültig ablegte, Schluss mit wummerndem Webstuhl und trampelnden Wänig-Füßen über dem Kopf. Schluss mit den verhassten Schultagen unter der Fuchtel von Lehrer Führertreu.
    Führertreu! Ulrich hatte keine Ahnung, wie sein Lehrer wirklich hieß. Alle Habendorfer nannten ihn so, womöglich wusste keiner mehr seinen richtigen Namen.
    Offiziell musste Führertreu seit dem 20. April 1937 als Gauleiter betitelt werden. An diesem Tag hatte er sich erstmals mit wie festgefroren ausgestrecktem Arm im offenen DKW die Dorfstraße auf- und abchauffieren lassen. Damals hatten die Habendorfer »Schaugefreiter« gefeixt. Weil der Gauleiter das gleiche Schauspiel jedes Jahr zu Führers Geburtstag wiederholte, hatten sie ihn später »Führertreu« getauft.
    Von seinen Schülern erwartete Führertreu am Tag seines jährlichen Defilees ein zackig grüßendes Spalier entlang der Abwassergräben.
    Soweit jedoch Ulrich aus den Gesprächen der Erwachsenen geschlossen hatte, würde es im kommenden Frühjahr keinen Aufmarsch samt Beflaggung zum Führer-Geburtstag mehr geben.
    »Es geht zu Ende mit der braunen Herrschaft«, hatte Schuster Höhn gesagt.
    »Die Heerestruppe Mitte ist bereits ausradiert«, hatte Bäcker Gabriel erwidert, und ein Fremder hatte hinzugefügt: »Die Alliierten blasen zum Halali. Der Amerikaner manövriert am Rhein, der Russe marodiert an der Weichsel.«
    Was immer dieser Fremde damit gemeint hatte, Ulrich hatte seinen Worten entnommen, dass jenes Ereignis nun dramatisch näher rückte, von dem schon länger die Rede war. Die Erwachsenen nannten es »Flucht«. Man würde Habendorf den Rücken kehren und mit Sack und Pack in Richtung Westen reisen. Ulrich nannte das Abenteuer.
    Er hatte aus all dem Gerede durchweg die richtigen Schlüsse gezogen. Bald schon würden Habendorfs Katen verlassen sein, ihre Bewohner auf abenteuerlichen Pfaden umherirren.
    Das Husten der Flakgeschütze hallte bereits bis Langenbielau. Im ganzen Land zerbröselten Häuser, Kirchen und Bahnhöfe unter den Bomben verschiedenster Nationalitäten. In Habendorf, dem HERRN sei Dank, war bisher kein einziges Steinchen vom andern gefallen, denn niemand auf Gottes weitem Kriegsschauplatz ahnte, dass es dahinten in Niederschlesien unter dem Bauch des Eulengebirges überhaupt ein Habendorf gab. Auf ihrem Vormarsch würde die Rote Armee eines Tages jedoch auch über Habendorf stolpern. Und der Gestellungsbefehl, der Führertreu ab dem 15. Oktober 1944 zur Heeresgruppe Nord, Kommandostandort Krakau beorderte, würde ihn zwar das Leben kosten, aber keinen einzigen Rotarmisten aufhalten.
    Die Walze stand still. Ulrich fegte die restlichen Haferflocken zu einem Häufchen zusammen und wischte es in die Tüte. Anton wartete bereits an der Scheunentür auf ihn. Zeit, nach Hause zu gehen.
    Heimwärts rannten sie nicht. Sie trödelten. Mit dem Abendbrot würde es ohnehin spät werden, weil der Vater
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