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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling
Autoren: Jutta Mehler
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Fluchtwilligen zum Bahnhof nach Glatz schaffen sollte.
    Wolli beobachtete, wie Vater Scheller eindringlich auf seine Frau einredete. Doch schnell schien er einzusehen, dass es zwecklos war. Als ihn Wolli nach seiner Drillichjacke greifen sah, machte er sich eilig davon.
    Kurz darauf sah er Scheller das Haus verlassen und den Weg zur Tischlerwerkstatt einschlagen. Wolli fragte sich, was Scheller da wohl wollte. Dieser Tage waren in Habendorf nicht einmal mehr Särge gefragt, weil die meisten Häuser leer standen. Aber genau das sollte es Wolli immens erleichtern, die Tauschware aufzutreiben, die ihm die Junkers F 13 einbringen würde. Allein schon was Bäcker Gabriel in seinem Haus zurückgelassen hatte, war wohl ein ganzes Geschwader von Miniaturflugzeugen wert.
    Wolli-Mausgesicht rieb sich vorfreudig die Hände. Und während er zu der rückwärtigen Kellerluke schlich, durch die er das Haus des Bäckers betreten und verlassen konnte, gestattete er sich, die Entwicklung der Dinge als geradezu exzellent einzuschätzen.
    Wie hätte Wolli ahnen können, dass sein eigener Erzeuger soeben dabei war, Vater Scheller eine Geschichte zu erzählen, die den Tischler davon überzeugte, dass er seine Frau mit Gewalt auf den Laster nach Glatz schaffen musste? Wollis Erzeuger – anders nannte ihn nie jemand in Habendorf – wirbelte seit einigen Minuten die Späne in Schellers Werkstatt auf, und synchron dazu beschrieb er Szenarien, die Schellers Entschluss erhärteten, das Heil in der Flucht zu suchen.
    Wolli Wänigs Erzeuger war in diesem Sommer zweiundzwanzig Jahre alt geworden. Die ersten zwei Jahre seines Lebens hatte er in der Kammer einer Hausmagd auf dem Dominium zugebracht. Danach ließ er sich nicht mehr wegsperren. Er rannte, wohin er wollte.
    Wollis Erzeuger war sieben, als der damalige Gutsverwalter vom Dominium der Hausmagd den Laufpass gab.
    »Aber das Kind!«, schrie sie.
    »Geht mich nichts an, die abscheuliche Brut!«, brüllte er zurück. »Pack deinen Krempel, ich nehm euch bis Reichenbach auf dem Fuhrwerk mit.« Doch bevor er die beiden wegschaffen konnte, rief der Baron, dem inzwischen zu Ohren gekommen war, dass sein Habendorfer Dominium ein Kind zu viel, dafür aber etliche Klafter Holz zu wenig vorzuweisen hatte, nach seinem Verwalter. Der kehrte daraufhin – wie zu erwarten war – nicht mehr aufs Gut zurück. Wenig später beauftragte man den Stellmacher Scheller, das Gleichgewicht auf dem Dominium wiederherzustellen. Scheller vermehrte die Holzstapel, beließ aber das Kind. Es würde sich, so glaubte er, schon in den Wirtschaftsplan einfügen. Es würde mit seinen kleinen Händchen zum Gesamtwerk beitragen, sodass fürs Dominium kein Schaden entstünde.
    Das Kind aber fügte sich nirgendwo ein. Jeder seiner Arbeitsbeiträge artete in Verwüstung aus. Scheller versuchte es mit Härte, mit Vernunft, sogar mit Bestechung. Doch mit wachsendem Unbehagen musste er zusehen, wie sich das Kind mehr und mehr zu einem Flegel entwickelte.
    Mit den Jahren fing der Flegel an, sich herumzutreiben. Bald erschien er auf dem Dominium nur noch zum Essen und Schlafen. Einerseits war Scheller erleichtert darüber, andererseits drückte ihn die Pflicht. Durfte er einen Parasiten im Dominium dulden? Gewiss nicht. Der Baron würde auf der Stelle rufen, wenn er davon erführe.
    Der Flegel war noch keine sechzehn, als er sich selbst um sein Nest brachte. Eines Abends lungerte er unterhalb einer Böschung an der Straße nach Langenbielau herum. Er hatte Bäcker Gabriels Katze erwischt, hatte sie mit zusammengebundenen Hinterbeinen an einem Ast aufgehängt und dann zugesehen, wie sie versuchte, sich zu befreien, bis ihn die Sache zu langweilen begann. Träge spähte er jetzt die verlassene Straße hinauf und hinunter, wollte schon lustlos heim zum Dominium wandern, da entdeckte er Marie Wänig, die ihm mutterseelenallein von Langenbielau her entgegenradelte. Sie kehrte an jenem Tag später aus der Stadt zurück als der restliche Pulk der Wänig-Weber, weil sie zum Bund Deutscher Mädel rekrutiert worden war und mit ihren Genossinnen Fahrtenlieder hatte üben müssen.
    Der Flegel grinste frech, trat auf die Straße und stellte sich Marie in den Weg. Möglicherweise wusste er selbst noch nicht, was er vorhatte, als er sie vom Rad zerrte. Marie schrie und strampelte. Der Flegel knuffte und boxte. Das Rad kippte um, und Marie blutete auf einmal aus einer Wunde am Kopf. Der Flegel ließ von ihr ab und sah zu, wie sie zuerst auf die
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