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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling
Autoren: Jutta Mehler
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Knie fiel, dann auf die Seite. Gleich darauf rutschte sie die Böschung hinunter und blieb auf einer Grasinsel liegen. Der Saum ihres Faltenrocks hatte sich wie eine Halskrause unter ihr Kinn geschoben. Als er sie so entblößt daliegen sah, muss ihm der schändliche Gedanke gekommen sein. Der Flegel schlitterte zu Marie hinunter, machte sich über sie her und zeugte Wolli Wänig.
    Vielleicht hätte Marie aus lauter Scham und Schande niemals ein einziges Wort über das Unsagbare verloren, das ihr widerfahren war, wäre sie nicht verdreckt und zerschunden Bäcker Gabriels Frau (die gerade nach ihrer Katze Ausschau hielt) in die Arme gelaufen – und das just unter der Gaslaterne vor dem Dorfwirtshaus. Die Bäckerin machte bei Marie eine blutige Schläfe aus, eine zerfetzte Bluse, zerkratzte Arme. Das reichte ihr.
    »Überfall!«, kreischte Hedwig Gabriel und: »Zu Hilf, dä Marieli bluut!« Weil sich daraufhin nichts rührte, brüllte sie noch: »Attacke!«
    Weiß der Himmel, wie sie auf Attacke kam, es bewirkte aber, dass ein paar Gestalten aus der Gaststube heraustorkelten. Werner und Otto Wänig blinzelten ins Licht der Laterne, der Wirt erschien vor seiner Tür und mit ihm drei Habendorfer, die am Tresen gehangen hatten.
    Es dauerte seine Zeit, bis Otto Wänig aus seiner Tochter herausgeholt hatte, was passiert war. Daraufhin dauerte es aber gar nicht lang, bis alle begriffen hatten, welche Untat hier geschehen war. Und es dauerte bloß eine Minute, bis sie sich einig waren, wie der Flegel dafür büßen sollte.
    Wollis Erzeuger hatte inzwischen – von triebhafter Anspannung befreit – Muße genug gehabt, ein wenig nachzudenken. Dabei war ihm aufgegangen, dass der Bogen überspannt war. Otto Wänig, das war gewiss, würde noch heute zum Dominium stürmen, um ihn zur Strecke zu bringen, und Gutsverwalter Scheller würde sich ihm bestimmt nicht in den Weg stellen.
    Das Bild eines blindwütigen Otto Wänig vor Augen, hielt es Wollis Erzeuger für ratsam, sich für eine Weile aus dem Staub zu machen. Er akquirierte Maries Rad, kehrte Habendorf den Rücken und trat in die Pedale.
    Knapp fünfzehn Minuten später passierte er die ersten Häuser von Langenbielau. Rechter Hand in einer Senke kam der Turnplatz in Sicht. Dort marschierten soeben die vereinigten Riegen der männlichen Hitlerjugend auf. Wollis Erzeuger fuhr langsam heran, dann bremste er, stieg ab und lehnte das Rad an den Zaun aus Holzplanken. Ohne lang zu überlegen, schlüpfte er durch die Bretter und schlich zu den Tribünenplätzen. Wehende Fahnen, flatternde Wimpel, akkurat ausgerichtete Schuhspitzen, sämtliche Nasen in einer Linie – Wollis Erzeuger glotzte fasziniert. Gaffend lungerte er unter der Tribüne herum. Er wusste ja ohnehin nicht, wohin er wollte.
    Dabei kam ihm gar nicht in den Sinn, dass er, wenn auch ein Stückchen abseits stehend, mit seinem dunkel umfransten Mausgesicht und der zerknautschten Joppe, mit seiner ganzen schlampigen Erscheinung auffallen musste wie ein verfaulter Zahn im Blend-a-med-Gebiss. Als ihm aber plötzlich zwei hakenbekreuzte Schulterklappen die Sicht blockierten, überrannte ihn die Einsicht, dass er schleunigst einen guten Text brauchte. Der tat sich auf, während sein Blick über die Schulterklappen hinweg in die Runde irrte.
    Wollis Erzeuger entdeckte die notwendige Inspiration auf einer Reihe von Spruchbändern, die sich entlang der Begrenzungspfosten um den Turnplatz herumspannten: »Die Juden sind unser Unglück«, las er und: »Juda verrecke.« Weiter hinten am Waldrand hieß es: »Mädchen und Frauen, die Juden sind euer Verderben.«
    Flugs tischte er eine passende Geschichte zu der einleuchtenden Propaganda auf. Er, behauptete Wollis Erzeuger, der herrenrassige Arier, habe als eiserner Wächter über deutsches Blutgut versucht, aus seiner Schulfreundin Marie Wänig die verfehlte Leidenschaft zu einem Reichenbacher Juden herauszuprügeln. Aber Maries uneinsichtige Verwandte, die nicht wahrhaben wollten, wie gefährlich das Judenpack sei, hätten nun ihn, ihn , der es nichts als gut gemeint hatte, aus dem Dorf gejagt und ihm Rache geschworen.
    Peng, ins Schwarze! , jubilierte Wollis Erzeuger insgeheim, als er die Worte vernahm, die eine befehlshaberische Stimme schnarrte: »Mit Stumpf und Stiel rotten wir den Jud aus. Den Jud mitsamt seinem schlechten Atem, der unsere Jugend vergiftet.«
    So sehr der Coup, der ihm gerade gelungen war, Wollis Erzeuger hoffen ließ, mit einem blauen Auge davonzukommen, so
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