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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling
Autoren: Jutta Mehler
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gesehen.
    Allerdings, fiel ihm ein, musste der Großvater oft seufzen und stöhnen, weil ihm die Knochen so wehtaten. Ulrich überlegte, ob ein neues Heim Schmerzen verursachen konnte, aber er fand keinen einzigen Grund, weshalb das so sein sollte. Er beschloss, Anton danach zu fragen, warum es der Großvater mit den Knochen hatte. Sein Bruder wusste immer Antworten.
    Auch diesmal kam die Antwort prompt und greifbar: »Vom Bücken, vom Heben, vom Lastenschleppen.«
    Natürlich, nicht dieses oder jenes Heim hatte Großvaters Knochen beschädigt, sondern die Zentnersäcke, die er Woche für Woche auf das Fuhrwerk laden musste, damit sie zum Baron gebracht werden konnten. Das Heim trug keine Schuld an Großvaters Schmerzen, denn ein Heim war einfach nur da, um bewohnt zu werden. Es konnte hier und dort sein oder eben anderswo.
    Was also sprach dagegen, zu flüchten – fort von Habendorf und hin nach anderswo?
    Somit hatte sich Ulrich also schon entschieden zu gehen, während die meisten anderen noch glaubten, sich niemals von ihrer Scholle trennen zu können. Doch was auf sie zukam, würde sie bald zum Umdenken zwingen. Nur bei Großvater Wänig sollte am Ende der Starrsinn siegen. Seit Jahrzehnten wuchtete sein Webstuhl Tag für Tag in der Wänig-Stube, und Großvater Wänig wollte ihn weiterwuchten lassen bis zum bitteren Ende.
    »Der Weber mecht stur bleiben«, munkelten die Habendorfer.
    Ja, so waren sie halt, die schlesischen Weber. Heinrich Heine hatte schon im Jahr 1844 über sie geschrieben: »Ein Fluch dem falschen Vaterlande, wo nur gedeihen Schmach und Schande, wo jede Blume früh geknickt, wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt – wir weben, wir weben.«
    Viele Wochen vergingen, während derer Ulrich nur darauf wartete, endlich aufbrechen zu können, sinnlosen Wörtern wie »Niederschlesien«, »Hohe Eule«, »Zobtenberg« zu entkommen. Erst nach den Weihnachtstagen würde er davonfahren, und er würde nichts mitnehmen.
    So gut wie nichts jedenfalls – ein paar Kleidungsstücke, das Solinger Messer (Wollis Bezahlung für die »Bismarck«), das Anton ihm großzügig überlassen hatte, ein Stückchen Draht, ein bisschen Schnur, ein paar schmale Brettchen, einen Bleistift – und natürlich die Junkers F 13, das neueste Werkstück der Scheller-Jungen. Alles andere würde er zurücklassen: die Schulfibel und die Schiefertafel, die Bettstatt und den Nachttopf davor, sogar die Zupfgeige, auf die er so stolz gewesen war. Vor allem aber würde er seine Heimat zurücklassen. Schlesien samt seinen berühmten Tälern und Höhen – samt seiner weit zurückreichenden Geschichte.

3
    Weihnachten 1944 kündigte sich mit Sirenengeheul an. Aus der Waldenburger Senke stieg Rauch auf.
    Wolli-Mausgesicht schlich die Treppe vom ersten Stock ins Tiefparterre hinunter, legte das Ohr an die Scheller’sche Wohnungstür und versuchte gleichzeitig, durchs Schlüsselloch zu schielen.
    »Mecht Zeit wern«, sagte Vater Scheller gerade.
    Wolli sah Ulrich vehement nicken. Arsch und Zwirn, die Schellers würden doch nicht von hier verschwinden, bevor er den Brüdern die Junkers F 13 abgeschwatzt hatte? Aber um die in die Finger zu bekommen, musste er noch einen Kaufpreis beschaffen, bei dem Ulrich und Anton nicht anders konnten, als ihn zu akzeptieren.
    Warum war es auf einmal so still in der Wohnung? Wolli bewegte den Kopf hin und her, um verschiedene Blickwinkel durchs Schlüsselloch auszuprobieren. Nach wenigen Sekunden geriet ihm Mutter Scheller ins Bild. Sie klammerte sich an die Kredenz, drückte Ulrichs fünf Monate alte Schwester Hilde an den Busen und schüttelte, ebenso vehement wie Ulrich genickt hatte, den Kopf.
    Wolli grinste befriedigt. Ulrichs Mutter wollte nicht weg. Sie wollte bleiben, so wie Großvater Wänig blieb.
    Unverzagt wuchtete der Webstuhl im ersten Stock. Womöglich bewirkte jenes vertraute Geräusch, dass Mutter Scheller dachte, nichts müsse sich ändern, und dass sie diesen Gedanken hartnäckig verteidigte, obwohl mittlerweile kaum jemand mehr in Habendorf hauste.
    Bäcker Gabriel hatte seinen Handkarren bereits vor zwei Wochen über die Dorfstraße hinaufgezogen und war an der Kreuzung in westlicher Richtung abgebogen. Schuster Höhn hatte letzten Sonntag den Eingang zu seiner Werkstatt vernagelt und war ebenfalls auf dem Weg nach Westen. Ein paar Nachbarn saßen noch auf ihren Gepäckstücken herum. Aber nicht aus Wankelmut. Sie lauschten auf das Rumpeln des altertümlichen Militärlasters, der die
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