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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling
Autoren: Jutta Mehler
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sicher noch mit den Särgen beschäftigt war; und Hunger hatten die beiden ausnahmsweise einmal nicht. Vom Großvater hatten sie Schmalzbrote bekommen, Haferkekse mit Rübensirup und Buttermilch. So eine Mahlzeit hielt vor.
    Unterwegs kaute Ulrich wieder einmal auf dem Wort »Flucht« herum, das ihm neuerdings so oft in den Sinn kam, weil es in Habendorf herumschwirrte wie im Sommer die Mücken.
    Aus Habendorf flüchten bedeutete wohl, die Dorfstraße hinaufzurennen bis zur großen Kreuzung, wo man sich entscheiden musste. Geradeaus weiter führte der Weg nach Reichenbach. Wer rechts abbog, kam nach Langenbielau und weiter nach Wer-weiß-wo, links ging es nach Breslau.
    Jedes dieser Ziele schien Ulrich reizvoll, verlockend, vielversprechend.
    Und was bliebe zurück? Ein verschlossenes Schultor in Langenbielau (weil Führertreu sowieso abmarschieren würde), das selbst weit geöffnet nie zum Eintreten ermuntert hatte. Ein seit Monaten verwaister Reichskindergarten, denn das Fräulein, das Ulrich in den Jahren vor seinem Schuleintritt himbeersirupsüß mit der falschen Versprechung köderte: »Wenn du deinen Grießbrei aufisst, brauchst du keinen Mittagsschlaf zu halten«, war im Kielwasser der Reichsimftruppe davongesegelt, vermutlich als Lügnerin vom Dienst: »Der kleine Pieks wird ganz bestimmt überhaupt nicht wehtun.« Weder dem Kindergarten noch dem verlogenen Fräulein hatte Ulrich eine Träne nachgeweint.
    Anton blieb ein paar Minuten stehen, als müsse er verschnaufen, weil auf Höhe der Bäckerei Gabriel die Dorfstraße in Richtung Wänig-Kate anzusteigen begann. Zwischen dem Haus des Schuhmachers und dem des Bäckers brachte es die Fahrbahn auf ein Gefälle von gut fünf Prozent.
    Die Habendorfer Rodelbahn. Ulrich dachte, dass es schade wäre, im Winter, wenn Schnee und Regen und Frost aus der Straße eine Eisbahn gemacht hatten, nicht mehr vom Ober- ins Niederdorf sausen zu können.
    Aber sonst? Nein, sonst hatte Habendorf wirklich nichts zu bieten.
    Habendorf nicht und Langenbielau auch nicht.
    Das Hinterland von Habendorf allerdings schon. Denn dort lag das Dominium, und das hatte eine ganze Menge aufzuweisen. Auf dem Dominium gab es vieles, was Ulrich schmerzlich vermissen würde: die Drehbank mit Fußantrieb, auf der der Großvater für seine Enkel im Laufe der Zeit mannigfaltige Kreisel hergestellt und auf der Anton die Schiffsschraube für das Schlachtschiff »Bismarck« angefertigt hatte. Vom Dominium zu scheiden bedeutete, den Deutz-Zweitakter zurückzulassen, die Walzen, Pressen, die Ställe …
    Ulrich ließ den Kopf hängen und fiel – weil plötzlich schlapp und müde – ein gutes Stück hinter Anton zurück, der den Anstieg inzwischen schon hinter sich hatte. Er schleppte sich gerade über die letzten Meter, als ihm ein berauschender Gedanke kam.
    Alles, was das Dominium zu bieten hatte, musste es ja auch anderswo geben. Und mehr noch, viel mehr. Hatte der Großvater nicht von riesigen Maschinen erzählt, die mit Dampf betrieben wurden, von Viertaktmotoren, von einem Düsenantrieb? Lag das eigentliche Land der Technik anderswo? Wenn ja, dann wollte Ulrich von ganzem Herzen dorthin. Und daraus folgte logisch, dass Flucht in jedem Fall zu befürworten war – unbestritten.
    Mit frischem Schneid holte Ulrich zu Anton auf, und beide hielten jetzt stramm auf die Wänig-Kate zu.
    Doch kurz vor dem Ziel kam Ulrich das ominöse Wort wieder in den Sinn, das Mutter Scheller nasse Augen machte und Großvater Wänig einen verkniffenen Mund. Ulrich drehte und wendete dieses Wort eine Weile, aber alles, was ihm dazu einfiel, war der Refrain eines Liedes, das die Kindergartentante immer nach dem pampigen Grießbrei, quasi als Countdown zum verhassten Mittagsschlaf, angestimmt hatte: »… wo die Elbe so heimlich rinnt, wo der Rübezahl mit seinen Zwergen heut noch Sagen und Märchen spinnt, Riesengebirge, deutsches Gebirge, meine liebe Heimat du!«
    »Heim – at«. Ulrich hatte das fragwürdige Wort schon mehrmals seziert und war stets zu demselben Ergebnis gelangt: »Heimat ist, wo wer sein Heim hat.«
    Das Heim der Schellers bestand aus zwei Zimmern im Tiefparterre und einem Abort über der ersten Ackerfurche. Dagegen war nichts einzuwenden. Aber – gab es so ein Heim nicht auch anderswo?
    Hatte nicht Großvater vor Zeiten sein eigenes Heim von der Mühle zum Dominium verlegt? Ja, das hatte er. Manchmal erzählte Großvater sogar davon. Doch nasse Augen oder einen harten Mund hatte Ulrich nie bei ihm
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